Unnachahmlich und monumental

Am 28. Mai wäre Dietrich Fischer-Dieskau 100 Jahre alt geworden. Grund genug, vor allem seine Sangeskunst noch einmal unter die Lupe zu nehmen. Getan hat dies einer, der es wissen muss. Eine Würdigung

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Wenn es unter Sängerinnen und Sängern ein Genie geben kann (eine grundsätzlich nicht ganz passend erscheinende Verknüpfung), dann kann ich nur Dietrich Fischer-Dieskau nennen. Der Begriff ist momentan nicht en vogue, und doch vermag er bündig einen Menschen zu beschreiben, der etwas fortan Unentbehrliches geschaffen hat, das es zuvor so nicht gab, in bislang ungeahnter Extension und Bedeutung.

Kein Genie stößt nicht an Grenzen: Moralische, epistemologische, physische, identitäre und narzisstische Belange werden bis zum letzten Wirken oft nicht klärend ausgeräumt; sie können dem Außergewöhnlichen aber dennoch nicht wirklich etwas anhaben. Und manches muss unvollendet bleiben.

Fischer-Dieskau hat nach 1945 das in seiner Fülle nicht überschaubare Feld des deutschsprachigen Kunstlieds, seine Präsentation und seine Bedeutung neu erdacht – dies schmälert bis dahin dokumentierte sängerische Leistungen im Einzelnen natürlich nicht. Das Lied war aber seit seiner «Erfindung» ein meist nostalgisch-sentimental vereinnahmtes Kunstwerk, in der Tradition eines, wie ich finde, unzureichenden, weil vor allem durch Selbstbezug begreifenden Kunstverständnisses, wie es sich recht passend in Moritz von Schwinds berühmter Zeichnung einer ‹Schubertiade› (1868) ausdrückt: Man sieht Menschen, die mehr sich selbst als Teil eines historischen Moments wahrzunehmen scheinen als das sie verbindende Kunstwerk. Ähnlich wie Schubert, aus dem Nichts heraus, das eher Einfachheit und Einheitlichkeit suchende Lied der ausgehenden Klassik (cum grano salis – natürlich gab es auch da viele bis heute grandiose Lieder, und nicht nur von Haydn, Mozart und Beethoven), vielfach affektiert bis zur Niedlichkeit und so nicht zufällig sich in anakreontischer Lyrik am erfolgreichsten und unverfänglichsten äußernd, wie also Schubert radikal innovativ das Lied als lyrisches Kunstwerk ersten Ranges zum Genre erhob, so hat Fischer-Dieskau instinktiv und wirkungsreich mit einer insgesamt unterentwickelten Programmierung und Darstellung einfach aufgeräumt. Nur als Beispiel für diese überkommene Liedästhetik: Das Verdikt unter anderem durch Johannes Brahms gegen die Gesamt-Aufführung von Liederzyklen als zu lang, ja langweilig, wirkte mit einem dieser Haltung wohl zugrunde liegenden Unterhaltungsanspruch in eher privatem Rahmen bis dahin nach. Mit Fischer-Dieskaus neuartigem Verständnis aber wurde das Lied zu einem Kunstwerk, das Distanz zum eigenen Empfinden einforderte. Ein Kunstlied musste sich nicht mehr an seiner direkten und unerforschlichen Wirkung auf das Gemüt messen lassen, sondern konnte endlich in seiner Kompliziertheit angesehen werden. Endlich konnte der Versuch unternommen werden, das Kunstlied in seiner Unbgreiflichkeit zu begreifen. Erstmals wurde durch Fischer-Dieskaus enorme künstlerische Autorität eine intellektuelle Auseinandersetzung in großer Breite und Selbstverständlichkeit eingefordert, die das rein philologische Erklären einer Komposition überstieg: Mit einem Mal wurde die zentrale Frage nach Sinn und Bedeutung eines Liedes populär. Die Kombination einer Musik mit einem darunter liegenden, initiativ inspirierenden Gedicht wurde nicht mehr emotional vereinheitlichend begriffen, sondern wurde in ihrer Kompliziertheit, die sich in beidem, Text wie Musik, schon zur Genüge zeigt, und dann noch umso mehr in deren Gleichzeitigkeit und Verschränkung, geradezu gefeiert. Nicht dass es auch dies nicht schon vorher gegeben hätte, aber Fischer-Dieskaus Konsequenz in der Erschließung des sogar in seinem Kern unübersichtlich großen Repertoires in diesem Sinn war neu und einzigartig. Und Garant dieses künstlerischen Wirkens war seine sängerische Meisterschaft.

Dieses besondere Singen würde ich als eine Art sängerischer Aufklärung, auch im wörtlichen Sinn, beschreiben – seine Stimme, von Zeitzeugen in Erwartung zarten Ausdrucks immer wieder als verblüffend tragfähig und kräftig beschrieben, war sehr hell. War nun der Gesang im 18. Jahrhundert, also auch noch zur Zeit der Entstehung des Lieds als Genre, ganz grundsätzlich der «Helligkeit» verpflichtet, so hat sich das Stimm-Ideal im Verlauf des 19. Jahrhunderts im Sinne eines immer mehr zum Dunklen neigenden Klangs verändert. Man kann das von einem der Zielpunkte dieser Entwicklung her als eine sich weniger und weniger in begreifender Distanz zeigende, stattdessen immer massivere Expressivität begreifen: Der Verismo, wie auch andere prämoderne Opernstile, wirkt durch eine Überwältigungsästhetik, die sich stimmästhetisch weniger subtil als in raumgreifend farblicher Fülle, Dunkelheit und Virilität äußert. Das ist keine Kritik an dieser Entwicklung. Und gerade Fischer-Dieskau, der einmal sagte, dass Oper und Lied technisch gleich zu singen seien, zeigte hier keinerlei revanchistische Haltung. Er hat vielmehr einfach seine sich genuin durchsetzende stimmhelle Ästhetik auch in der Oper verwirklicht, so wie der Gesangsstil des romantisch begründeten Opernzeitalters eben lange Zeit auch die Liedästhetik beeinflusst hatte. Das hat ihm nicht nur Beifall beschert – überhaupt wurde ihm nie von allen Seiten kritiklos applaudiert, er bildet hier keine Ausnahme; und das nicht einmal im Bereich des Kunstlieds. Einige seiner vielfältigen Tätigkeiten sind heute nicht mehr sehr präsent. Vielleicht werden seine Bücher und Gemälde auch nicht mehr das ihnen ursprünglich entgegengebrachte Interesse zurückerlangen, und auch einige der Tonaufnahmen nicht mehr. Aber aus deren ungeheurer Menge wird doch sehr vieles bleiben, vieles davon als Standard. Von niemandem wurde wohl ähnlich viel Solo-Literatur nicht nur dargestellt, sondern eben auch aufgenommen. Alles kann man sich von ihm anhören, häufig mehrfach, und das in einer eigentlich immer erstklassigen, aber auch häufig fast erwartbaren Art – hier zeigt sich vielleicht ein leicht betrüblicher Aspekt. Als einer seiner Epigonen kann ich nicht verstehen, wie einem ein solch facettenreiches und riesiges Arbeitspensum sowohl mit der nötigen kontinuierlichen Begeisterung, aber auch in unfassbar konstanter sängerischer Qualität gelingen kann, und nur als ein Beispiel für Fischer-Dieskaus Vielfältigkeit möchte ich erwähnen, mit welch verwunderlicher Leichtigkeit er auch äußerst fordernde Partien wie die des Mandryka in Strauss’ «Arabella» grandios bewältigte, offensichtlich ohne sich damit geschadet zu haben. Und doch kann ich den Eindruck nicht verhehlen, dass die sängerisch-qualitative Erwartbarkeit sich in einer Vielzahl seiner Aufnahmen auch auf deren Inhaltlichkeit übertrug. Gerade seine berühmte Gesamtaufnahme der Schubert-Lieder möchte ich hier nennen: Als dem in meinen Augen bis heute maßgeblichen Gesangsinterpreten von dessen Liedern ist es ihm nicht wirklich gelungen, jedem dieser Hundertschaften von Werken gleich gerecht zu werden. Fischer-Dieskaus enzyklopädischer Anspruch, praktisch die auch nur irgend denkbare Summe der Möglichkeiten des Repertoires auszuleuchten, scheiterte nicht an der Quantität, ganz im Gegenteil: Seine objektivierbare Leistung ist unnachahmlich und monumental. Aber das partikulär geahnt Einzigartige jedes Liedes – klanglich, expressiv, farblich – ging mitunter verloren: Es stellte sich teilweise eine gewisse Monotonie des Erwarteten und auch des Erfüllten ein. Hier wurde vielleicht eine Grenze des für ein Menschenleben sinnvoll Leistbaren überschritten, und es zeigte sich beim gereiften Sänger zunehmend eine leicht belehrend wirkende Manieriertheit. Dieser weit verbreitete und oft geäußerte Eindruck eines «professoralen» Stils hing vielleicht besonders mit seiner geradezu einschüchternden diskographischen Allgegenwart zusammen – und dies angesichts so vieler bis heute höchst berührender und tiefgründiger Einzelaufnahmen. Auch wenn durch diese «Übererfüllung» manches gerade nicht vollendet erscheint, halte ich ihn für einen der wichtigsten Darsteller überhaupt, und persönlich würde ich ihn, den Sänger im Gewand des Bildungsbürgers, den Thomas Mann unter ihnen nennen – in meinen Augen ein würdiger Vergleich, um sich an diesen überragenden, begeisternden und inspirierenden Künstler zu erinnern.


Opernwelt Mai 2025
Rubrik: Essay, Seite 78
von Christian Gerhaher

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