
Foto: Ludwig Olah
So nah, so fern
Wieder am 2. April.
Manchmal sieht man es erst auf den dritten Blick. Wenn Vaters schmuckes Jackett speckige Flecken bekommt, wenn Mutter nur noch Billigstfleisch beim Discounter kauft – oder wenn das Kind nicht mit auf Klassenfahrt kann: Es strauchelt sich schnell in exakt jenem sozialen System, in dem der wahre Status getarnt sein will.
Existenznot beginnt mit kleinen, verhängnisvollen Schritten – nur ob dafür Georg Büchner und Alban Berg die richtigen Anwälte sind? Auf eine Stilisierung, die nicht zu Voyeurismus einlädt und Peinliches provoziert, hat sich die Regie beim «Wozzeck» ja seit Längerem verständigt. Umso überraschender, wenn eine Inszenierung wie am Staatstheater Nürnberg zur Konkretisierung, zur Verdinglichung, viel riskanter: zur Aktualisierung drängt.
Der Abgrund, so suggeriert es Georg Schmiedleitner, klafft also nicht nur vor kleinstädtischen Soldatenfamilien Anfang des 19. Jahrhunderts. Auch der Mittelstand anno 2017 muss sich in Acht nehmen. Es geht den Wozzecks nicht gut. Ledersofa, viele Amazon-Kartons mit Elektronikware, doch an den Wänden finden sich kleine rote Parolen. Und als das Kind einmal sein Plüschtier mit dem Gürtel schlägt, so wie es Papa immer mit dem Hauptmann ...
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Opernwelt April 2017
Rubrik: Panorama, Seite 53
von Markus Thiel
Die Dame trägt Rot. Lang an ihrem schmal-schlanken Körper herabfließendes, samtenes Rot. Steht ihr gut, wo sie doch jetzt die (attraktive) Gattin eines (einfluss-)reichen Mannes ist, nicht mehr nur Bild für die anderen. Also spielt Lulu, die seit Menschengedenken diesen Namen nicht mehr trägt, die ihr zugedachte Rolle, spielt sie mit versuchter Würde. So ganz...
Wie ein Mühlrad rotieren die vier kleinen Räume auf der schmalen Drehbühne. Uns schaudert es beim Anblick dieser schäbigen Enge, in der beschädigte Menschen das Leben der anderen und ihr eigenes zerstören. Marie sitzt melancholisch am offenen Fenster ihrer kleinen Kammer, Doktor und Hauptmann zucken in ihren Räumen, während Andres Hasen ausnimmt und aufhängt. Sie...
«Der Wind wütete, hoch schwollen die Wogen, schwer wog die Luft von Dunkelheit. Der Ozean verfinsterte sich und der Regen peitschte in Stößen herab.» So beschrieb der Mediävist Joseph Bédier in seiner 1900 erschienenen Nacherzählung des Tristan-Stoffs das Meer. Derart wild geht es an der Cardiff Bay am Abend der Premiere von Frank Martins «Le Vin herbé» zwar nicht...