Schattengedanken

Raphaël Pichon und Stéphane Degout suchen in Schuberts legendärem Text «Mein Traum» von 1822 nach Spiritualität

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Was ist der Erde Glück? Ein Schatten! Was ist der Erde Ruhm? Ein Traum! Du Armer! Der vom Schatten du geträumt! Der Traum ist aus, allein die Nacht noch nicht …» Erschütterndes gibt Medea, die Kindesmörderin, ihrem Gatten Jason mit auf den einsamen Weg, bevor sie durch den fallenden Vorhang ins Nichts entschwindet. So endet Franz Grillparzers Drama «Medea», dritter Teil der Trilogie «Das goldene Vlies», uraufgeführt 1821 am Wiener Burgtheater. Es ist anzunehmen, dass Franz Schubert, der Grillparzer nahestand, das Stück gekannt und eine der Aufführungen besucht hat.

Weiter darf vermutet werden, dass Medeas Schattengedanken auch Eingang in jenen mysteriösen Text des Komponisten aus dem Jahr 1822 fanden, dem Bruder Ferdinand posthum den Titel «Mein Traum» gab. Denn Medeas Worte passen gut zu dieser verklausulierten Schilderung von Schuberts Lebensproblemen, quasi in der Nussschale vorgeführt: der frühe (Typhus-)Tod der Mutter 1812, die neurotischen Reaktionen des Sohnes darauf, das schwierige Verhältnis zum Vater. 

Zweifellos kannte der glaubensversierte Schubert die Bibelstelle vom «Verlorenen Sohn» (Lukas 15, 11-32). Doch bevor er in «Mein Traum» von der strengen Vaterfigur in die ...

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Opernwelt Februar 2023
Rubrik: CDs, DVDs und Bücher, Seite 22
von Gerhard Persché

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