Papiertheater, handgemacht
Neunzig Jahre alt ist der Maler und Regisseur Achim Freyer, doch er hüpft in seinen Sneakers über die Bühne wie ein Rumpelstilzchen. Der weiße Haarschopf wackelt, der Bart zittert. Die einzige Sorge: dass er nicht doch noch über die knöchelhohe Schwelle stolpert, die einmal quer über die Bühne führt. Aber Freyer passt auf, hebt den Fuß demonstrativ und erinnert dabei stark an den Butler James aus «Dinner for one», wie er dem Tigerkopf auf dem Boden ausweicht.
Der Mann ist ein biologisches Wunder, was vielleicht auch damit zu tun hat, dass er mit unermüdlicher Produktivität aktiv gegen das Einrosten vorgeht. Im September hatte am Staatstheater Meiningen seine Inszenierung von Verdis «Don Carlo» Premiere, nun, in Gera, seine Sicht auf Wagners «Holländer». Beides sind kleinere Häuser, die von Freyers Wohnort Berlin aus gut zu erreichen sind und wo die Institution «Stadttheater» von einem harten Kern kraftvollen Bürgertums getragen wird. Zur Premiere erscheint man hier noch festlich im Anzug, ältere Damen orientieren sich in der Garderobe am Art déco-Stil des prächtigen Geraer Hauses. Im Schlussapplaus überreicht eine Dame vom örtlichen Theaterverein einen Scheck über 15.000 Euro. Mit dem Betrag wurde die eben gezeigte Produktion unterstützt. Ein Ausweis privaten Engagements: Offen und stolz zeigt die Bürgerschaft hier, wie sie ihrem Theater unter die Arme greift. Nur einmal muss Achim Freyer dabei lachen: als ihn die Dame in breitem Thüringisch als «einen der wegweisendsten Künstler und Regisseure unserer Zeit» würdigt. Da brandet Beifall auf, und Freyer klatscht zunächst mit, bis er mit erstaunter Mimik innehält und den Umstehenden clownesk seine Überraschung zu verstehen gibt: «Aber das bin ja ich!»
In seiner frei waltenden Phantasie ist Freyers Geraer «Holländer» eine Wohltat. Nichts vom Realismus, der schon seit Längerem auf vielen Bühnen vorherrscht: Freyer präsentiert handgemachtes Theater, das direkt dem Zeichenblock entstiegen scheint. Nicht der geringste Versuch des einstigen Brecht-Schülers, den Betrachter in eine Illusion zu locken. Das Bühnenbild wechselt über die durchgespielten zweieinhalb Stunden hinweg kaum nennenswert: links ein stilisierter Jägerstand, das Reich Eriks, dem Freyer besondere Sympathien zukommen lässt, rechts ein ebenso stilisiert gezeichneter Felsen, davor ein mannshoher Bilderrahmen: das Reich Sentas, die, wenn sie den Vorhang vom Rahmen zurückzieht, mal sich selbst erblickt als gedoppelte Darstellerin, mal den Holländer, den sie anhimmelt.
Die Backfisch-Sehnsucht Sentas, wenn sie wie ein Groupie vor dem Bildnis des Holländers verharrt: Für Freyer ist das ein Akt reiner Projektion. Senta sieht, was sie sehen möchte, die Figur des Holländers ist nur Fluchtpunkt ihrer Träume und Sehnsüchte. Deshalb versagt der Regisseur dem vermeintlichen Paar auch jegliche Interaktion, selbst beim Liebesduett, dem schon Wagner nie die volle klangliche Aufhellung gewährt. Dann stehen Holländer (mit klangschönem Bariton: Alejandro Lárraga Schleske) und Senta (strahlend: Anne Preuß) hintereinander im Schummerlicht der Bühne; und sollte sich Senta dann doch einmal zu ihm umdrehen, wendet sie den Kopf doch zwanghaft zur Seite: als wolle sie die reale Gegenüberstellung mit ihrem Traumbild vermeiden. Auch überragt der Holländer sie um Längen: Freyer installiert ihn als statuenhafte Figur, komturhaft, überlebensgroß aufragend, wohl auf einem Schemel stehend, der sich unter dem weiten, schwarzen Umhang verbirgt. Keinen Schritt darf er tun, nur götzenhaft dastehen und singen. Das Motiv der ewigen Ruhelosigkeit erscheint eingefroren, bei Freyer ist der Holländer nichts als ein düsteres Götzenbild aus der Vorstellung Sentas.
Verloren geht dadurch nichts, eher schon charmant entledigt sich Freyer der Problematik dieser Figur, die den Betrachter sonst vor Rätsel stellt mit ihrem eigentümlichen Zwitterwesen aus Gespensterhaftigkeit und Männlichkeit. Der wirklich Seltsame in Freyers Inszenierung ist Daland (mit mephistophelischer Eleganz: Philipp Mayer). Eine fest choreographierte Abfolge von Bewegungen zeigt ihn als windigen Gesellen. Mit elastischen Beinen schleicht er auf die Bühne, reibt sich die Hände, setzt sich mit Zeigefingern Teufelshörner auf, lässt in eigenartiger Sinnlichkeit die Hüften kreisen. In der Wiederkehr dieser Choreographie über den Abend hinweg greift Achim Freyer die Leitmotivtechnik Wagners auf – auch die übrigen Figuren zeigen solch motivisch verwendete Gestik. Sie ist auch notwendig, da die Inszenierung nahezu völlig auf Mimik verzichtet – von Senta abgesehen, die ein Lächeln zeigen darf. Alle anderen tragen Masken, schwarze zumeist, die Freyer, der Künstler, ein bisschen mit weißer Farbe bepinselt hat. Projektionsebenen sollen diese Gesichter sein für Senta, den Projektionsprofi, aber auch für die Zuschauer, deren Phantasie und deren Unterbewusstsein der Regisseur anregen will.
Ins Beklemmende verstärkt sich dadurch aber auch die düstere Anmutung dieser Produktion. Wie mit weißem Kreidestift auf schwarzes Tonpapier gezeichnet erscheinen Bühne und Kostüme, undurchdringliches Schwarz herrscht vor. Wie die Requisiten in der Simplizität ihrer Darstellung einer Kinderzeichnung entsprungen zu sein scheinen, bleibt dem Betrachter immerhin eine Ahnung des Traum- und Märchenhaften in der Düsternis. Die Matrosen aber: schwarze Gesellen wie durch den Schornstein gezogen, die Spinnerinnen: rußige Schwestern, Mary (Eva-Maria Wurlitzer mit herrischem Klirren): eine schwarze Domina, die die Peitsche kreisen lässt.
Nur Senta darf weiß sein (und streift dabei schon wieder das Gespensterhafte) und Erik, der als einziger unter den hier versammelten Träumern und Traumatisierten fundierte, echte Gefühle zeigt. Sein gestisches Leitmotiv ist das Türenknallen, mit dem er seiner Frustration ein ums andere Mal Ausdruck gibt: ein Schrei nach Aufmerksamkeit in einer Welt, in der seine Gefühlsäußerungen echolos verstreichen. Freyers besondere Zuwendung gilt erkennbar dieser Figur, Isaac Lee verleiht ihr Präsenz mit einem Tenor von nahezu heldenhafter Dringlichkeit.
Rätselhafte Schönheit atmet Freyers kunstreiches Bühnenschwarz, aus dem Orchestergraben gesellt sich eine Schönheit dazu, die ohne Rätsel bleibt: Hier wurde einfach exzellent gearbeitet. Generalmusikdirektor Ruben Gazarian formt die scharfen Kontraste der «Holländer»-Musik aus, ohne dabei eine grundlegende Ästhetik der Geschmeidigkeit zu verletzen. Das Philharmonische Orchester Altenburg Gera spielt mit warmem Ton und wacher Präzision – das hat bemerkenswertes Niveau. Erstaunlich ist auch die vorbildliche Balance zwischen Bühne und Orchestergraben: Kein Sänger des durch die Bank stark besetzten Ensembles wird vom Orchester in Bedrängnis gebracht. Dabei hat man nie das Gefühl, Gazarian würde seine Musikerinnen und Musiker zu gehemmtem Spiel anhalten. Der Beifall für alle Beteiligten ist enthusiastisch. Was das deutsche Stadttheater abseits der Metropolen zu leisten imstande ist: In Gera wird es an diesem Abend eindrucksvoll gezeigt.
Wagner: Der fliegende Holländer
GERA | THEATER
Premiere: 25. Oktober 2024
Musikalische Leitung: Ruben Gazarian
Inszenierung, Bühne, Kostüme, Licht, Video: Achim Freyer
Chor: Alexandros Diamantis
Solisten: Alejandro Lárraga Schleske (Holländer), Anne Preuß (Senta), Philipp Mayer (Daland), Isaac Lee (Erik), Johannes Pietzonka (Steuermann), Eva-Maria Wurlitzer (Mary)
www.theater-altenburg-gera.de
Opernwelt Dezember 2024
Rubrik: Im Focus, Seite 12
von Clemens Haustein
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