Man muss berührt werden
Frau Steier, stellen Sie sich für einen Moment vor, Sie wären Intendantin eines Opernhauses. Wie sähe Ihr Spielplan aus?
LYDIA STEIER: Ganz einfach: In meinem Spielplan würde ich die «klassische» Oper, wie wir sie kennen, mit Projekten verknüpfen, die auf unkonventionelle Art und Weise mit klassischer Musik umgehen. Seit Jahrzehnten präsentieren wir Oper vornehmlich im weitesten Sinne traditionell – in ihrer Totalität, in überschaubaren Interpretationen.
Das ist für Menschen, die einen perfekt musizierten Abend sehen wollen, in zunehmendem Maße ebenso wenig beglückend wie für diejenigen, die sich eher für innovative musiktheatrale Projekte interessieren. An dieser Konvention würde ich sehr gerne rütteln. In meinem imaginären Opernhaus gäbe es pro Saison fünf Premieren. Zwei Produktionen wären der «klassischen» Oper vorbehalten, sie würden sich im besten Fall durch eine kraftvolle inszenatorische Sprache auszeichnen; die weiteren drei bestünden aus einem total freakigen Projekt, einer Mischform zwischen klassisch und freakig sowie einem amüsant-unterhaltenden Stück. In erster Linie wichtig fände ich es, Künstlern aus anderen Disziplinen die Gelegenheit zu geben, neue Formen und Formate auszuprobieren; für die etablierten Experten gäbe es ja die zwei eher traditionelleren Produktionen.
Herr Wegner, wäre ein solcher Spielplan beispielsweise am DNT in Weimar möglich?
HANS-GEORG WEGNER: Warum nicht? Wir suchen ja immer nach der berühmten Mischung aus Inszenierungen, die das Publikum ansprechen – und wo man in etwa auch weiß, was erwartet wird –, und kühner Neuerung. Das Problem ist nur: Man kann nie prophezeien, was im Saal gut ankommt. Jeder Zuschauer hat einen anderen Geschmack; selbst die sogenannten Publikumsrenner sind nicht kalkulierbar. Ich habe das tatsächlich einmal erlebt, als wir einen sehr prominenten Kabarettisten eingeladen hatten, eine Operette in historischen Kostümen zu inszenieren. Obwohl wir dachten, mit dieser Kombination alles richtig gemacht zu haben, wurde es ein langweiliger Abend; das Publikum blieb aus. Dieses Planen von Erfolgen kann also nicht die richtige Herangehensweise sein. Man muss in die Stadt hineinhorchen. Und je länger man in dieser Stadt ist, umso mehr spürt man, was die Leute mögen, wo sie andocken. Andererseits haben viele junge Regisseurinnen und Regisseure das ernste Bedürfnis, eine «klassische» Oper als Materialsammlung zu verwenden, das heißt: in das Material einzugreifen, es möglicherweise neu zu arrangieren und es mit aktueller Musik zu versehen, kurz: das vorhandene Stück eher als eine Art «Thema» zu begreifen. Ich denke, das ist es, was Lydia Steier mit «Projekten» meint, die sich auf klassische Musik berufen. Wir waren darüber in der vergangenen Spielzeit mit zwei Regisseuren im Gespräch. Und ich muss gestehen, dass ich inzwischen skeptisch bin, ob das Publikum einen solchen Schritt mitvollzöge, wenn wir sagen würden: Wir machen im Großen Haus ein Projekt zu Mozarts «Zauberflöte» oder zu Puccinis «Tosca», bei dem die Zuschauer statt ihrer «Zauberflöte» oder ihrer «Tosca» eine theatrale Auseinandersetzung mit dem Thema «Zauberflöte» oder dem Thema «Tosca» erleben können. Ein Großteil der Zuschauer kann sich darunter kaum etwas vorstellen; insofern bin ich sehr gespannt, wie die Entwicklung der kommenden Jahre sein wird. Die wesentliche Frage hierbei wird sein: Wie machen wir das Publikum Stück für Stück mit neuen Ideen vertraut?
Und wie stehen Sie zur sogenannten leichten Muse?
WEGNER: Ich persönlich halte sie für ein zunehmend interessantes Format. Während Unterhaltung bis vor einigen Jahren von uns hochintellektuellen Dramaturgen als eine quantité négligeable betrachtet wurde, als etwas, das man halt machen «muss», hat sich die Sichtweise inzwischen signifikant geändert – und das nicht nur wegen des Publikums, sondern auch aufgrund der gesellschaftlichen Veränderungen. Wir leben in einer unglaublich erregten Zeit; alles ist immer gleich auf Anschlag in der Diskussion über soziale Themen. Deswegen erscheint es mir eben auch geboten, Formate anzubieten, in denen 600 Menschen, die ganz unterschiedliche politische Ansichten haben, drei Stunden lang friedlich nebeneinandersitzen, sich entspannt amüsieren und Kunst einfach mal genießen, ohne gleich über das, was sie gesehen haben, streiten zu müssen. Und das hat meines Erachtens eine politische wie gesellschaftliche Dimension, die man nicht unterschätzen sollte.
Herr Eggert, in einem Beitrag für die Wochenzeitung «Die Zeit» haben Sie geschrieben, Oper sei «die altmodischste, reaktionärste, am meister hinter der Zeit zurückbleibende Kunstform.» Ihrer Ansicht nach wäre es zwingend notwendig, mindestens 50 Prozent zeitgenössisches Musiktheater zu machen, damit wir nicht ein verstaubtes Museum betreten, das den Namen «Oper» trägt: Erstens: Wie ist das möglich? Und zweitens: Ist das wirklich die Lösung, um die Oper als Kunstform zu erhalten?
MORITZ EGGERT: Ich möchte mit einer Gegenfrage antworten: Was wären denn die Argumente für einen Spielplan, der das nicht macht, der also nicht 50 Prozent zeitgenössisches Musiktheater präsentiert? Stellen wir uns hypothetisch folgende Situation vor: Wir gehen in ein Land mit einem vollkommen neutralen Publikum und entwickeln einen Spielplan from scratch, also vom Nullpunkt aus – gäbe es irgendeinen Grund zu sagen, dass wir hierfür die Dominanz des traditionellen Repertoires benötigen? Ich glaube nicht. Entsprechend anders würde mein Spielplan aussehen. Wenn ich schon das Wort «Projekt» höre, sträuben sich mir die Haare. Ich bin ja auch Publikum, ich liebe die Tradition. Und ich will keine «Projekte» sehen, sondern tolle Stücke. Mir nützen Begriffe, die dem Diskursfeld entstammen und irgendwie mit Adorno und einer diffusen Avantgarde zu tun haben, wenig; sie bedienen nur bestimmte Klischees. Wir müssen eine Oper, die Sinn hatte, als sie komponiert wurde, nicht hinterfragen – wir müssen sie auf die Bühne bringen. Gleichwohl bin ich ein Fan des Regietheaters, ich liebe und bewundere es. Nun aber zu Ihrer Frage nach einer plausiblen Lösung: Erstrebenswert ist meiner Meinung nach ein Spielplan mit sechs Opern; allerdings würde ich mir, bevor ich ihn konzipiere, eine Co-Intendantin zur Seite stellen, die anders als ich auf die Stücke schaut, die mich, meine Ideen hinterfragt. Ich würde drei Werke des traditionellen Repertoires aussuchen, und ich würde sie so zeigen, wie sie ursprünglich intendiert waren. Denn aus dieser historischen Information heraus kann ich sehr viel über die heutige Zeit lernen; ich muss das nicht unbedingt in Putins Klo spielen lassen. Dann würde ich zwei zeitgenössische Opern programmieren, von Komponisten aus aller Welt. Ich würde die besten und neuesten Stücke aus Norwegen nehmen oder auch aus Finnland: Letzteres beispielsweise ist ein tolles kleines Land, wo es wirklich fantastische Komponisten gibt und wo sehr viele zeitgenössische Opern aufgeführt werden, die das Publikum begeistert aufnimmt, weil diese Bühnenwerke extrem viel mit seiner Lebenswirklichkeit zu tun haben. Dann würde ich mich in den USA umschauen, in England, Frankreich ... Und schließlich würde ich einen Werkauftrag an einen Komponisten oder an eine Komponistin vergeben, die ein spezielles Stück zu einem speziellen Thema schreibt. Würde ich hingegen ein verrücktes oder freakiges «Projekt» realisieren, das ein klassisches Stück irgendwie hinbiegt, wäre das so, als würde ich ein Ikea-Regal bestellen und daraus einen Tisch bauen; es ist doch viel besser, wenn ich, symbolisch gesprochen, gleich den Tisch kaufe. Dafür gibt es genügend Talente. Und die sollten von Beginn an eng mit den Regisseurinnen und Regisseuren zusammenarbeiten, wie es weiland schon in der Florentiner Camerata gang und gäbe war, wo alle Künstler zusammenkamen, um gemeinsam ein Werk in Gang zu setzen. Das würde als Hinwendung zu neuen Formen garantiert funktionieren, auch als eine Art Besinnung auf die Tradition – wie sie ist und wie sie einmal intendiert war.
Herr Seemann, jetzt sind Sie aufgefordert. Wie sieht Ihr Spielplan der Zukunft aus?
HELLMUT SEEMANN: Ich frage mich zunächst: Für welche Stadt soll ich ihn erstellen? Denn ich glaube, die gesamte Fragestellung ist für Metropolen wie Frankfurt oder Berlin eine andere als für Weimar, und das finde ich auch gar nicht anrüchig. Wir befinden uns hier in einem mittlerem Haus in einer kleinen Stadt, also in einem ungewöhnlich großen Theater, und ich glaube, darüber muss man in Weimar anders nachdenken als an einem Ort, der mehr als dreieinhalb Millionen Einwohner hat. Mein Spielplan hat also sehr viel mit dem Standort zu tun, mit seiner Tradition, mit der Tradition der Gattung. Gleichviel: Oper ist, wo immer sie stattfindet, die komplexeste Kunstform, die es gibt. Deswegen ist sie von vielen Parametern abhängig: Habe ich einen guten Verdi-Tenor? Habe ich eine adäquate Sängerbesetzung für «Le nozze di Figaro»? Habe ich ein Ensemble, das in der Spielweise des 17. Jahrhunderts hinreichend informiert ist? Von diesen Fragen ausgehend, würde ich den Spielplan an der Region ausrichten und danach, wie ich als Haus gerade aufgestellt bin – und schließlich noch an der Frage: Wie sollte, könnte eine Oper aussehen, die im Jetzt entsteht? Was sollte das für ein Thema sein? Mir persönlich mangelt es an jener Sicherheit, mit der die ganz große Zeit der Oper gesegnet war, also der Zeitraum vom späten 18. bis zum frühen 20. Jahrhundert. Die Genialität eines «Rosenkavalier» beispielsweise muss man ja erst einmal verstehen. Das fehlt mir heute. Ich würde dennoch verstärkt nach Stoffen suchen, die gleichsam schubertisch geformt sind; nach Opern, in denen ich lachen und, mehr noch, weinen kann. Oper muss uns mitnehmen auf eine Reise, sie muss emotional berühren, und zwar eigentlich so sehr, dass man es kaum noch aushält. Dieses Ideal würde ich in die heutige Zeit zu übertragen versuchen. Und ich würde fragen: Welchen Stoff erleben die Menschen im Saal als eine grundsätzliche Erschütterung ihrer Existenz? Was könnte das sein? Ich glaube, so etwas würde mich sehr interessieren – als Intendant, als Regisseur und als Dramaturg.
Nehmen wir drei Beispiele aus der jüngeren Vergangenheit: «Diodati. Unendlich» von Michael Wertmüller und Dea Loher in Basel, «Les Bienveillantes» von Hèctor Parra auf ein Libretto von Händl Klaus in Antwerpen, sowie die Berliner Fassung von Jörg Widmanns «Babylon» auf einen Text von Peter Sloterdijk. Sind das die Themen, die Sie meinen? Oder ist Ihnen das zu schwer?
SEEMANN: Nein. Generell jedoch sollte Oper auch immer den Aspekt der Leichtigkeit und Unterhaltung beachten, und in erster Linie muss sie die Menschen ergreifen. Deswegen sind das alles Themen, die mir sofort einleuchten. Ich persönlich aber würde nach solchen Themen nicht suchen. Ich würde vielmehr nach etwas suchen, das mit den Menschen zu tun hat, die heute, sehr verständlicherweise, auf die Straßen gehen. Ich meine die Klima-Kinder, die sich fragen, ob sie in dieser Welt überhaupt noch leben dürfen oder ob sie nur noch in Regularien der Einschränkung werden leben müssen. Das scheint mir eines der Themen zu sein, welches die Menschen, und nicht nur die jungen, sehr stark beschäftigt. Wir machen jetzt seit 2450 Jahren Moderne, und das geht unter dem Stichwort Fortschritt immer weiter. Aber das Konstrukt ist doch längst nicht mehr stimmig. Ganz viele junge Menschen glauben inzwischen, dass sie am Rande eines Vulkans existieren und die Chancen, die ihre Eltern noch hatten, plötzlich nicht mehr haben, Wenn man denen etwas böte, was ihr Lebensgefühl widerspiegelt und dies in einer erschütternden Form zur Geltung brächte, dann bin ich sicher, hätte man ein volles Haus, auch in einer Stadt wie Weimar.
EGGERT: Sie sprechen vom Weinen. Die Spielpläne vieler Opernhäuser bringen mich auch zum Weinen. Aber Spaß beiseite: Ich stimme Ihnen in vielen Punkten zu, gerade was die Emotionalität in der Oper angeht. Und ich streite gerade deswegen ständig mit meinen Komponisten-Kollegen: Warum gibt es in der zeitgenössischen Oper eigentlich nur noch abstrakte Symbole und keine Figuren mehr? Die große Faszination der Oper liegt doch darin, dass sie ein «Kraftwerk der Gefühle» ist. Wir müssen nur aufpassen, dass wir das Feld nicht zu weit öffnen. Mir persönlich geht es mehr um das Prozedere. Sie sagen, dass Sie die Ihnen nahegehenden Stoffe im 19. Jahrhundert gefunden haben. Aber der feine Unterschied zum Heute ist der, dass damals 95 Prozent der aufgeführten Opern zeitgenössische Werke waren; das sollte man nicht vergessen. Wir kennen aus dieser fernen Zeit nur noch die crème de la crème der crème de la crème der crème de la crème der besten Stücke und besten Komponisten. Wenn ich mir etwa einen Spielplan aus Moskau oder Weimar von 1850 anschaue, kenne ich die meisten Opern, die damals gespielt wurden, gar nicht mehr. Mit anderen Worten: Es wurde seinerzeit sehr viel gegenwärtige Musik gespielt. Es gab einen Wettbewerb, und deswegen waren die Stücke auch gut. Es gab unterschiedliche Modelle, und selbst ein Richard Wagner sah sich in Konkurrenz mit anderen genialen Komponisten; aus dieser kompetitiven Struktur heraus sind die großen Werke entstanden. Aber damit dieses Gegenwärtige auch stattfinden kann, braucht es Platz. Und das ist heute ganz schwierig. Mit welchen Argumenten würde ich in einen Buchladen gehen und sagen, dass ich auf der Stelle 95 Prozent der neuen Literatur von lebenden Autorinnen und Autoren entferne? So ist es aber in der Oper. Wir leben in einer Zeit voll spannender, aufregender, vielfältiger Themen, von denen einige zum Beispiel zur politischen Operette hin tendieren könnten, und es kann ja nicht das Ziel sein, diese Formen den kommerziell-hohlen Musical-Tempeln zu überlassen. Wir brauchen freche Stücke, und die können auch mal scheitern. Warum muss ausgerechnet in der Oper so stark aussortiert werden?
WEGNER: Das klingt alles so überzeugend, dass niemand einen Einwand formulieren würde. Dennoch möchte ich eine Lanze dafür brechen, dass wir die alten Stücke immer wieder aufs Neue spielen. Oper ist die einzige Kunstform, die sich permanent auf alte Stoffe rückbesinnt. Das gibt es so weder in der Malerei noch in der Schriftstellerei – und im Kino, der mit Abstand jüngsten dieser Kunstformen, so gut wie gar nicht. Mir fällt dazu eine theologische Analogie ein: Wir alle kennen das Phänomen jenes 2000 Jahre alten Buches namens Bibel. Jeder Pfarrer ist regelmäßig aufgefordert, beispielsweise die Geschichte im Stall von Bethlehem zu vermitteln, das heißt, er muss den Inhalt des Buches, seine interessante und wichtige Botschaft, immer wieder in unsere Zeit übersetzen. Damit ist er im Grunde am nächsten dran an dem, was wir mit der Oper von Monteverdi bis Verdi machen. Wir versuchen zu entschlüsseln, welche wichtige soziale Botschaft diese Werke enthalten, und wie wir diese Botschaft in unsere Zeit übersetzen können. Und das hat für mich etwas Wertvolles wie Faszinierendes. Denn wir vergewissern uns damit, dass wir als Gesellschaft eine Geschichte haben, dass wir die Probleme stets aufs Neue beschreiben und sie lösen müssen – wir sind ja nicht die ersten menschlichen Wesen, die Liebeskummer haben. Diese Übersetzungsarbeit ist der Grund, warum wir die alten Werke immer wieder neu inszenieren, ja, warum wir sie überhaupt auf dem Spielplan haben. Das Thema Schmerz und Tränen in der Oper berührt tatsächlich einen im Wortsinn merkwürdigen Punkt: Auf der einen Seite will das Publikum eine «Traviata» sehen – aber bitte ohne Blut auf der Bühne. Die Zuschauer damals hatten sehr viel mehr Mut, sich diesen Themen konkret auszuliefern; 99 Prozent der Bühnenwerke enthielten mehr oder minder schreckliche Geschichten, Wir sind heute nicht mehr geneigt, dergleichen zu sehen. Würden wir heute eine Uraufführung herausbringen, die Menschen zeigt, die an Aids zugrundegehen, hätten wir damit garantiert nicht den gleichen Erfolg.
EGGERT: Es ist doch seltsam, dass es im Kino möglich ist: Der sehr erfolgreiche Film «Philadelphia» mit Tom Hanks in der Hauptrolle behandelte exakt diesen Stoff. Ich denke, das könnte auch in der Oper funktionieren.
Warum schreibt dann niemand eine solche Oper? Ein Großteil der zeitgenössischen Werke behandelt Phänomene, die in der Vergangenheit liegen und auf andere Art und Weise «schwer» sind; nehmen wir nur die bereits genannten Opern «Les Bienveillantes» und «Babylon», ferner Schöpfungen, die sich mit Gestalten der Zeitgeschichte beschäftigen wie «Dr. Atomic», «Celan» oder «Benjamin», ferner tragisch-symbolische Stoffe wie Arnulf Herrmanns «Der Mieter» oder Aribert Reimanns «L’Invisible». Fehlt den zeitgenössischen Komponisten der Mut zur Leichtigkeit, wie ihn vor Jahren etwa Oscar Strasnoy mit seiner Operette «Le bal» besaß?
EGGERT: Ich denke schon, dass wir uns an die Nase fassen müssen und als Komponisten wieder mehr Mut haben sollten, uns diesen Themen zu stellen. Ich bemerke hier aber ebenso eine Art Schwarzer-Peter-Spiel: Es wird beklagt, dass die zeitgenössischen Komponisten nicht mehr komponieren und das Publikum emotional berühren könnten: Das stimmt einerseits auch, aber es stimmt eben auch wieder nicht. Viele neue Stücke, die emotional berühren, kennt das Publikum gar nicht, weil sie nicht (mehr) gespielt werden. Diese Stücke waren vielleicht bei ihrer Uraufführung ein Riesenerfolg, sind aber gleich danach wieder in der Versenkung verschwunden. Nur Spezialisten kennen diese Opern. Ich wünschte mir zu diesem Thema eine positivere und mutigere Diskussion, und zwar mit Dramaturgen, Kritikern, Komponisten, Intendanten und Operndirektoren.
Frau Steier, Sie haben in der vergangenen Saison sowohl «Diodati. Unendlich» als auch die «Zauberflöte» inszeniert – zwei Herausforderungen der besonderen Art. Ist ein Stück wie «Diodati. Unendlich» letzlich nicht sogar einfacher auf die Bühne zu bringen als eine «Zauberflöte»?
STEIER: Hellmut Seemann hat perfekt ausgedrückt, worum es in beiden Fällen gehen sollte: Man muss berührt sein und berührt werden – unabhängig davon, ob die Vorlage klassisch oder zeitgenössisch ist. Meine größte Konkurrenz ist diesbezüglich ohnehin ein dunkles Zimmer mit Dolby Surround System und einer Flasche Rotwein; das ist doch eine verlockende Weise, Oper zu genießen, zu konsumieren. Die Frage ist nun: Wie kann man eine ähnliche Attraktivität im Rahmen eines Musiktheaters erreichen? In meiner Heimat, den USA, ist es ein Tabu, den Stoff überhaupt auch nur anzufassen; in Deutschland hingegen wird es als ein Tabu angesehen, wenn man es nicht macht. Und das ist beinahe noch problematischer. Man kriegt ein Stück angeboten, und gleich die erste Frage scheint lauten zu müssen: Wie kann ich das zerlegen? Sprich: Dem Urmaterial zu vertrauen, ist auch schon wieder verdächtig. Und das ist der Unterschied zwischen einem Stück wie Mozarts und Schikaneders «Zauberflöte» und Michael Wertmüllers und Dea Lohers «Diodati. Unendlich». Auf den ersten Blick hat man es da mit neuem Material leichter, weil eine andere Erwartungshaltung besteht. Aber eben nur auf den ersten Blick, denn oft führt eine inhaltliche Auseinandersetzung mit zeitgenössischen Werken nicht zu einer Tiefe, wie es bei manchen älteren möglich ist. Und das bringt mich auf ein Problem, das wirklich virulent ist: die mangelnde Qualität vieler neuer Libretti. Ich habe etliche Stücke angeboten bekommen, die aus nichts als einer Reihe von unsinnigen Monologen bestanden und keine Dialoge mehr enthielten. Auch ein so hochwertiger Text wie der von Dea Loher birgt mitunter beachtliche Hürden. In «Diodati. Unendlich» war es ihr erklärtes Ziel, keine Strukturen, keine Narration zu haben, was nicht immer leicht umzusetzen war. Vor allem im Umgang mit den Gewohnheiten eines Publikums, das große Oper auf einer großen Bühne erwartet. Vielleicht ist die aber ohnehin noch nicht der richtige Spielort für solche Stücke; ein experimenteller Raum schiene mir geeigneter.
WEGNER: Ein wichtiger Punkt! Einen Hugo von Hofmannsthal haben wir nicht mehr, und die Krise des zeitgenössischen Musiktheaters ist zum großen Teil die Krise des Librettos. Es scheint unfassbar schwer zu sein, ein Libretto zu schreiben, das sich mit dem komponierten Stück auch emotional verbindet; ich weiß das, weil ich selbst welche verfasst habe. Bei den meisten Uraufführungen wird keine Geschichte mehr erzählt – das ist tatsächlich eine Kunst, die nahezu ausgestorben ist. Wir haben hier in Weimar den Mozart/Da Ponte-Zyklus gemacht, und es wurde wieder einmal evident, wie unfassbar gut die Dialoge sind, wie sehr sie von einer Handwerklichkeit geprägt sind, die heute kein Librettist mehr beherrscht. Erschwerend kommt hinzu, dass das Kino alle guten Leute abzieht.
EGGERT: Den Librettisten fehlt aber auch die Gelegenheit, sich auszuprobieren, sogar ein Lorenzo Da Ponte hat jede Menge Stuss aufs Papier geworfen, bevor er dann seine besseren Libretti verfasste. Diese Gelegenheit – Sachen auszuprobieren, um dann vielleicht eines Tages ein tolles Ergebnis zu erzielen – schenkt man jungen Librettisten heute nicht mehr. Ich kenne begabte junge Autorinnen und Autoren, aber es fehlt ihnen an Erfahrung. Das Gleiche gilt für Komponisten: Nach dem Studium geht es zunächst darum, mit einer Uraufführung bei den Festivals für zeitgenössische Musik in Donaueschingen oder Darmstadt sowohl Kritiker als auch Intendanten zu beeindrucken, und so das gelungen ist, mit 35 bis 40, heißt es: «Jetzt sollte es mal eine Oper sein.» Das muss man irgendwie machen, weil es eine peer pressure gibt. Diese Oper ist dann entweder gut oder schlecht, manchmal ist sie gut, wird aber als schlecht empfunden, manchmal ist es exakt andersherum. Ja, und dann passiert wieder nichts. Ich würde meinen Studenten verbieten, Opern zu schreiben, wenn sie nicht dafür brennen, weil man das, ohne Leidenschaft dafür zu empfinden, wirklich nicht machen sollte. Damit eine Oper gelingt, muss alles toll sein – das Libretto, die Regie, das Orchester, der Dirigent. Es ist ein bisschen wie im Kasino, wo man alles auf eine Zahl setzt. Ich denke, um den Traum der Oper sollten nur diejenigen kämpfen, die auch die Leidenschaft dafür aufbringen. Aber genau das ist das Problem: Ich kenne höchstens eine Handvoll von Librettisten, die mehr als ein Libretto geschrieben haben, und ich kenne Komponisten, die noch nie eine Oper geschrieben haben und auch noch nie in der Oper waren, noch nie bei der «Traviata» geweint haben – einfach deswegen, weil sie das Stück gar nicht kennen. Wie soll von diesen Komponisten Leidenschaft für die Oper ausgehen?
Wie kann man das ändern? Müsste man, um in einer bürgerlich definierten Stadtgesellschaft zu reüssieren, das Leitungspersonal auswechseln? Die Struktur ändern? Oder müssen wir womöglich den ganzen Laden in die Luft sprengen, um Platz für Neues zu schaffen?
WEGNER: Ich glaube nicht, dass eine solch radikale Lösung hilfreich wäre, zumal das Problem meines Erachtens anderswo liegt: Das Repertoire der bekannten Opern schrumpft enorm. Viele Menschen kennen nicht mehr als 15 Opern; das waren auch schon mal 50 und im 18. und 19. Jahrhundert noch weit mehr. Normalerweise verlassen wir uns darauf, die wir diese bekannten Werke auf die Bühne bringen und damit die Erwartungen erfüllen. Aber das wird immer schwieriger, Werke wie «Peter Grimes», «The Rake’s Progress» oder »«La sonnambula» zählen heutzutage bereits zum Randrepertoire. Man kann diesen Schwund des bildungsbürgerlichen Spektrums natürlich beklagen, andererseits liegt paradoxerweise genau hier ein Hoffnungsschimmer. Denn ich kann anstelle von «Sonnambula» ebenso gut auch eine Uraufführung programmieren, weil ich den gleichen Aufwand betreiben muss, um dem Publikum zu suggerieren, dass es dieses Stück unbedingt sehen sollte. Und ein Musiktheater wie Ludger Vollmers «The Circle» hat größere Chancen, verstanden zu werden, als eine Oper von Donizetti mit einem uns heute fremden und unbekannten Stoff. Insofern glaube ich, dass die neue Musik in der Oper künftig mehr Raum einnehmen wird. Das muss ja auch nicht schräg und abstrakt sein. Ich stelle fest, dass es zunehmend Komponisten gibt, die sich trauen, wieder eine Musik zu schreiben, die mit dem Publikum kommuniziert.
EGGERT: Ich muss wieder etwas fragen, weil die Fragestellung einen interessanten Aspekt in unser Debatte berührt: Funktioniert die Idee, neue Stücke in die heiligen Musentempel zu bringen, heute überhaupt? Opernhäuser sind gewachsene Betriebe; sie wurden gebaut, um das Repertoire des 19. Jahrhundert zu pflegen, auch Chöre und Orchester sind bis heute entsprechend disponiert. Wie sieht es aber mit neuen Stücken aus? Zumal wenn Elektronik in ihnen verwendet wird? Mir scheint es, als sei die Technik für solche Experimente gar nicht vorhanden. Ich habe das konkret bei den Proben zu meiner Oper «M – eine Stadt sucht einen Mörder» an der Komischen Oper Berlin auch so erlebt. Selbst unser Wohnzimmer in München hat einen besseren verstärkten Sound als der Saal der Komischen Oper, man muss also viel Aufwand betreiben, um das dort gut hinzubekommen, da die Infrastruktur fehlt. Also konkret die Frage an Lydia: Du bist Entrepreneur, durch deine Herkunft sehr erfahren im Umgang mit erfolgreichen Start ups, sehr fortschrittlich. Angenommen, wir würden ein neues Opernhaus erfinden, eines ohne Beamtenstatus, aus dem Nichts. Wie würdest du das angehen?
STEIER: Das ist zunächst eine Frage des Geldes.
Geld würde keine Rolle spielen …
STEIER: Okay. Was erwartet wird, ist quasi ein erhöhter Erlebnisaspekt. Das heißt, wir bräuchten nicht unbedingt einen Guckkasten, wir könnten einen anderen Raum entwickeln. Ich hätte gern ein Immersionszimmer für Klang und das gesprochene Wort.
EGGERT: Wir brauchen vielleicht kein fest angestelltes Orchester mit 120 Musikern. Vielleicht ist das gar nicht mehr so wichtig. Man könnte für eine bestimmte Produktion zum Beispiel ein Ensemble anheuern sowie Sänger, die man ausschließlich für diese sechs Wochen engagiert, die dann aber auch immer da sind. Wäre das nicht billiger?
Billiger schon, aufgrund der streng normierten Strukturen in Deutschland derzeit jedoch schier unmöglich. Denkbar wäre allerdings künftig eine Mischung, wie es sie beim «Opera Forward Festival» in Amsterdam gibt, mit mehreren Spielstätten und unterschiedlichen musiktheatralischen Formaten. Könnten Sie sich dafür erwärmen, Herr Seemann?
SEEMANN: Ich möchte zunächst auf etwas ganz anderes, gleichwohl Bedeutsames hinweisen. Die Entstehungszeit jener 15 Opern, die den engen Kanon ausmachen, liegt zwischen 1780 und 1911. Und da muss man doch mal hinschauen: Wie war die musikalische Qualität der Produkte, und wie waren die Bedingungen ihrer Entstehung? Man sollte immer unterscheiden zwischen der Geltung, dieser Eisernen Ration des Opernkanons, und seiner Entstehung: Wie ist er eigentlich zustande gekommen? Das Konzept, das wir heute für neue Werke des Musiktheaters und für die Repertoirestücke haben, tut der Oper nicht immer gut. Das ist nicht locker genug, das kann nicht hinreichend ausprobiert werden, da ist der Betrieb wichtiger als das Ergebnis. Im langen 19. Jahrhundert waren die Arbeitsbedingungen katastrophal, denken wir nur an Giuseppe Verdi. Er musste Opern manchmal binnen sechs Wochen schreiben, und nicht selten war das Opus noch gar nicht vollendet, als die Proben begannen. Und trotzdem war ein solches Werk ein genialer Einfall, oder sogar ein die ganze Nation umfassender Triumph. Dahinter muss etwas stehen, was mit dem Genre Oper zu tun hat, mit seinen Entstehungsbedingungen im 19. Jahrhundert, die wir nicht mehr vorfinden. Wir haben stattdessen diese riesigen Apparate – und ihre Opernhäuser, die alle den «Ring» machen müssen, ohne wirklich zu wissen, was sie damit wollen. Im Falle von Mozart, Wagner oder Verdi e tutti quanti standen hinter dem Werk als solchem stets bürgerliche Emanzipationsbewegungen, aus denen neue Gesellschaften hervorgingen. Die Oper war plötzlich eine Kunstform, die nationale Identität möglich machte respektive sie überhaupt schuf, und zwar vermittels jener Figuren, die da auf der Bühne standen. Das muss für die Menschen des 18. und 19. Jahrhunderts so überwältigend gewesen sein wie die Erlösung, die von einer «Matthäus-Passion» ausgehen kann. Ich glaube, es war damals viel einfacher, ein Publikum zu erschüttern, und im besten Fall waren das alles veränderte Menschen, die nach der Vorstellung aus dem Opernhaus strömten – und das ist der Entstehungshintergrund der großen Opern. Wir Heutigen müssen uns ganz ehrlich sagen: Das ist nicht mehr so. Ich würde mich auch deswegen freieren Formen anvertrauen, wie sie hier beschrieben wurden, mit einer anderen Art der Vernetzung, mit Festivals als Treffpunkten und Opern, die überhaupt erst entstehen, während man an ihnen arbeitet. Schauen wir uns am 10. Oktober 2019 in Berlin den vom STEGREIF-Orchester entwickelten «Don Giovanni» an! In solchen Projekten liegt womöglich die Zukunft der Oper. Auch ein mittelgroßes Haus kann ein Ort sein, um solche neue Formen im Zusammenspiel mit anderen Produktionsorten zu entwickeln. Daneben müssen wir die Infrastrukturen bewahren, die wir in den großen Häusern haben. Wir brauchen diese Schwämme, die den Kanon erhalten und zugleich Neues aufsaugen.
Opernwelt August 2019
Rubrik: OW-Dialoge, Seite 48
von Jürgen Otten
Christophe Slagmuylder ist kein Vertreter der Firma «Schall & Rauch». Der Intendant der Wiener Festwochen (bis 2025) gibt sich eher leise und unaufgeregt, übertreibt’s nicht mit Floskeltrompete und trendigem Kulturmanagersprech. Wobei der Belgier, der den vor einem Jahr vorzeitig zurückgetretenen Tomas Zierhofer-Kin quasi aus dem Stand ersetzen musste, die in den letzten Jahren...
Es gibt diese Abende, von denen zu erzählen spannender ist als sie selbst. Die neue Münchner «Salome» ist so ein Abend. Im Programmheft steht ein glänzend redigiertes Interview mit dem Regisseur Krzysztof Warlikowski. Überhaupt ist dieses Programmheft – zusammengestellt von den Dramaturgen Miron Hakenbeck und Malte Krasting – ein Muster an Sorgfalt in Text und Bild, ausgewogen in der...
Als Violetta sich am Ende ihrer Vergangenheit erinnert, zieht im hörbaren Hintergrund ein Karnevalszug vorbei: «Addio del passato». Es ist eine treffliche Pointe, dass uns Katharina Gault die im Schlussbild von «La traviata» unsichtbare Spaßgesellschaft vorab in den beiden großen Massenszenen der Oper in farbenprächtiger Deutlichkeit vor Augen führt – als entfesselt agierendes Kollektiv...