Freiheit ist nur ein Wort
Ein leises «Ach!» entfährt Alkmene am Ende von Kleists Tragikomödie «Amphitryon», sie hat ja auch allen Grund dazu. Was ihr zuvor widerfuhr, hätte wohl auch stärkere Naturen aus der Bahn geworfen; fragt sich nur bei Lichte besehen, ob die göttliche Einmischung in ihre etwas angestaubte Ehe mit dem bedauernswerten Titelhelden nicht womöglich einem innigen Herzenswunsch der Gattin entsprach, also in gewisser Weise nur Gutes «angerichtet» hat.
Ein leises «Ach!» entfährt auch dem Wien-Gast, der an die Donau gereist ist, um das Entrée der drei großen Opernhäuser zu genießen, dann aber feststellen muss, dass aus dem Pas de trois nichts wird: Die geplante szenische «Idomeneo»-Premiere am wiedereröffneten Musik-Theater an der Wien fiel buchstäblich ins Wasser: Sintflutartige Regenfälle hatten für einen erheblichen Schaden gesorgt, Mozarts Seria konnte nur konzertant gegeben werden.
Genügend Diskussionsstoff gab es dennoch. Kirill Serebrennikovs Inszenierung von Verdis «Don Carlo» in der vieraktigen Mailänder Fassung erhitzte die Gemüter beinahe über Gebühr. Am Ende des Premierenabends, als der russische Regisseur auf die Bühne der Staatsoper tänzelte, tobte ein wütender Buh-Orkan durch die heiligen Hallen, und schon während der Vorstellung ließen sich einige kakanische Loggionisti zu misslaunigen bis spöttischen Kommentaren hinreißen. Was war passiert? Nun, im Grunde nichts Spektakuläres. Serebrennikov hatte Verdis Dramma lirico lediglich zum Anlass genommen, ein bisschen über die Welt nachzudenken, und überall das, was im Verlauf der Geschichte, die ja nie je zu Ende ist, nicht so gut in ihr funktionierte und nach wie vor nicht funktioniert. «Don Carlo» dient ihm als Folie, und wie das so häufig ist, wenn Menschentheater sich in Diskurstheater verwandelt, bleiben wesentliche Ingredienzen des Werks unangetastet.
Serebrennikov, wie gewohnt sein eigener Ausstatter, verlegt das Geschehen in ein kühl-weißes «Institut für Kostümkunde», woselbst Mitglieder der Komparserie in die aufwändigen Gewänder der fünf historischen (Opern-)Figuren schlüpfen, um dann wie Museumsstücke mit gestischem Auftrag einsam und verloren auf der Bühne herumzustehen. Verdis Mönch ist ein Mitarbeiter (Ivo Stanchev), der Großinquisitor, den Dmitry Ulyanov mit grimmigem Bass singt, amtiert als Direktor, auch die übrigen Protagonistinnen und Protagonisten werden in dieses «System» hineinbeordert. Sämtliche Konflikte und Leidenschaften sind gewissermaßen einer höheren Idee geopfert. Doch schon an diesem Punkt verzettelt sich Serebrennikov. Verkürzt gesagt: Kapitalismus ist nicht gleich Inquisition – während die derzeit herrschende globale «Staatsform» seit Urzeiten ohne Moral auskommt, waren katholische Hexenjagden stets religiös motiviert; auch Funktion und Sichtbarkeit der Macht sind komplett unterschiedlich. Das größere Problem dieses an sich nicht uninteressanten Ansatzes liegt darin, dass er die Menschen hinter den Figuren vergisst. Wo schon kein Fontainebleau-Akt vorkommt, müsste doch zumindest ein Hinweis erfolgen, worin genuin die tiefen Qualen des Titelhelden bestehen. Zwischen Joshua Guerreros Don Carlo, der sich viel zu häufig in die Höhe hinaufschluchzt, und der Elisabetta von Asmik Grigorian, deren nach wie vor betörend elektrisierender Sopran inzwischen etliche metallurgische Elemente enthält, aber funkt es erst sehr spät, im vierten Akt. Und erst in diesen Minuten, wo die ganze «Theorie» obsolet und das Interieur des Instituts in Metallkisten verschwunden ist, wird die musikdramatische Wucht des Werks evident und dringt der Abend zum Kern dessen vor, was hier eigentlich erzählt werden soll. Ein bisschen spät, um das Davor zu beglaubigen. Seltsam, aber fast gewinnt man den Eindruck, als habe sich auch Philippe Jordan von Serebrennikovs Ideenkonstrukt einlullen lassen. Drei Akte lang klingt das Orchester der Wiener Staatsoper beinahe brav-betulich und bewegen sich vor allem die Tempi an der unteren Grenze des Erlaubten. Da fehlt es an Feuer, Furor und Farbe, selbst der gewaltige «Spunta»-Chor vor dem Autodafé (das Serebrennikov wie ein Happening inszeniert, das Öko-Aktivisten unter der Führung von Marquis Posa im mittelalterlichen Spanien veranstalten) wirkt unterspannt. Das wiederum korreliert zum szenischen Geschehen, das merkwürdig leblos und viel zu didaktisch bleibt mit seinen Einblendungen, die uns darüber informieren, wer die historischen Personen waren. Auch reicht es wohl kaum, Rodrigo ein T-Shirt mit der Aufschrift «Libertà» überzustreifen, um die Debatte darüber zu führen, was Freiheit meinen könnte, für wen sie gilt. Ohnehin dominiert Plakatives diesen Abend, sodass sich tatsächlich etwas einstellt, das man in diesem Stück nie je erwarten würde: Ermüdung. Was bleibt, ist die hohe Sangeskunst: Der Bass von Roberto Tagliavini als Filippo hat Wurzeln, die bis in den Erdkern reichen, Étienne Dupuis gibt einen flexiblen Rodrigo, und Eva-Maud Hubeaux zeigt uns, wie elementar ein Schmerz sein kann: Ihre zwischen Licht und Wahn changierende Arie «O don fatale» reißt uns aus dem Schlaf.
Dass wir wach bleiben, dafür sorgen Ben Glassberg und das Orchester der Volksoper Wien schon in der Ouvertüre zu Bizets «Carmen». Das ist knackig, konzis und kristallin musiziert. Auch in der Folge entlockt der Musikdirektor des Hauses Bizets Partitur jene geschliffene Brillanz, die nötig ist, um das Bühnengeschehen zu befeuern. Lotte de Beer dankt es ihm mit einer Inszenierung, die das glatte Gegenteil zum Konzepttheater Serebrennikovs sein will: Die Intendantin erzählt, mit feministischer Grundierung, die Geschichte einer a priori zum Scheitern verurteilten Liebe so, wie es die Vorlage suggeriert – als Opéra comique, in der Heiterkeit minütlich zu existenziellem Ernst mutieren kann. Das Leben so leicht, der Tod so nah.
Christof Hetzer hat ihr den dafür geeigneten Raum ersonnen: Glaubt man am Anfang noch, man befinde sich in einem Bauerntheater mit Pappmaché-Kulisse, verändert sich das Bild mit jeder Szene und geht den Weg ins Abstrakt-Dunkle, so wie die Seelen der Verlorenen. Nach Freiheit dürsten sie alle: Carmen (eine kämpferische Natur: Annelie Sophie Müller), weil sie sich von patriarchalen Zuschreibungen emanzipieren will; der vernarrte Narr Don José (famos: Tomislav Mužek), weil er endlich ein selbstbestimmtes Leben führen will, Micaëla (lyrisch eindringlich: Iulia Maria Dan), weil sie insgeheim danach trachtet, ihren Liebestraum zu verwirklichen. Nur Escamillo, dem Daniel Schmutzhard seinen heldischen Tenor leiht, genügt es, der bewunderte Star zu sein. Man könnte dem Abend fehlende Dialektik unterstellen. Doch Lotte de Beer denkt augenscheinlich an ihr Publikum. Sie will unterhalten. Dafür riskiert sie einige Klischees, die aber durch die flotte Choreographie (Gail Skrela) sowie ein spiel- und tanzfreudiges Ensemble hinreichend kaschiert werden. Was hingegen nicht kaschiert werden kann, ist die Tristesse des Endes. Da stirbt nicht nur eine Frau, da stirbt auch die Hoffnung auf Liebe. Und der Himmel über Wien seufzt leise «Ach!»
Verdi: Don Carlo
WIEN | STAATSOPER
Premiere: 26. September 2024
Musikalische Leitung: Philippe Jordan
Inszenierung, Bühne und Kostüme: Kirill Serebrennikov
Licht: Franck Evin
Video: Ilya Shagalov
Chor: Thomas Lang
Choreographie: Evgeny Kulagin
Solisten: Roberto Tagliavini (Philipp II.), Joshua Guerrero (Don Carlo), Étienne Dupuis (Rodrigo, Marquis von Posa), Dmitry Ulyanov (Der Großinquisitor), Ivo Stanchev (Ein Mönch), Asmik Grigorian (Elisabetta), Eve-Maud Hubeaux (Eboli), Ilia Staple (Tebaldo), Hiroshi Amako (Graf von Lerma/Herold), Ileana Tonca (Stimme vom Himmel)
www.wiener-staatsoper.at
Bizet: Carmen
WIEN | VOLKSOPER
Premiere: 21., besuchte Vorstellung: 27. September 2024
Musikalische Leitung: Ben Glassberg
Inszenierung: Lotte de Beer
Bühne: Christof Hetzer
Kostüme: Jorine van Beek
Licht: Alex Brok
Chor: Roger Díaz-Cajamarca
Choreographie: Gail Skrela
Solisten: Annelie Sophie Müller (Carmen), Tomislav Mužek (Don José), Daniel Schmutzhard (Escamillo), Iulia Maria Dan (Micaëla), Alexandra Flood (Frasquita), Sofia Vinnik (Mercedes), Alexander Fritze (Zuniga), Modestas Sedlevičius (Morales), Karl-Michael Ebner (Remendado), Pablo Santa Cruz (Dancaïro) u. a.
www.volksoper.at
Opernwelt November 2024
Rubrik: Im Focus, Seite 10
von Jürgen Otten
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