Diktatur der Affekte
Der Mond über dem Palast des Herodes bleibt unsichtbar. Für den Pagen, der ihn mit «einer Frau» vergleicht, «die aufsteigt aus dem Grab»; für die Prinzessin, die ihn als «silberne Blume» besingt, «schön und keusch»; auch für den Tetrarchen, der in ihm «ein wahnwitziges Weib» erkennt, «das überall nach Buhlen sucht». Nicolas Brieger braucht für seine schlüssige Inszenierung des Oscar-Wilde-Dramas keine blutrot oder leichenblass schimmernde Scheibe, um abstrakt-metaphorisch auf die Lust- und Angst-Projektionen der «Salome»-Gesellschaft hinzuweisen.
Ihre Obsessionen, ihre seelischen Zerrüttungen führt der Regisseur am Grand Théâtre de Genève mit schonungsloser Unmittelbarkeit, in beklemmend konkreten Bildern vor. Das Maß dieser geschlossenen Welt sind nicht die Wonneschauer einer verführerischen, schaurig-schönen décadence, sondern ein auf die Spitze getriebener Nihilismus à la de Sade.
Schon die erste Szene offenbart jene Dialektik von enthemmter Gewalt und Leidenschaft, die alle Figuren, auch den Propheten, beherrscht. Auf der Terrasse eines nach hinten gekippten Monumentalbaus, der die Herrschaftsarchitektur des Faschismus evoziert (Bühne: Raimund Bauer), lassen sich die ...
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Ulrich Schreiber nennt sie den «wichtigsten Beitrag Frankreichs zur veristischen Opernbewegung». Der gute alte Kloiber hatte schon Jahrzehnte zuvor die «fast surrealistisch überhöhten» Milieuschilderungen in Gustave Charpentiers «Louise» hervorgehoben. Eben diesen Weg, den vor kurzem Christof Loy in Duisburg (siehe OW 11/2008) gegangen war, wählt jetzt auch...
Auf Bildern ist Marisol Montalvo eine perfekte Lulu. Im Programmheft findet man die dunkelhäutige Schönheit: schlank, unbezähmbar, mit wild funkelnden Augen und irrem Lachen, überwältigt von Lust, ganz hingegeben an den Moment, kindlich und doch höchst gefährlich. Und denkt: Wer sonst als sie sollte die Lulu singen, dieses mythische Frauenwesen, diese...
Um Hermann Becht war Freundlichkeit, Fairness und ein untrüglicher Sinn für Gerechtigkeit. Auf langen, entnervenden Proben konnte er, ohne ein Wort, seine Kolleginnen und Kollegen zum Durchhalten ermuntern. Aber wenn eine Probe sinnlos war, eine Disposition unprofessionell, ein Regisseur auf unangenehme Weise egoman, dann machte er den Mund auf und sagte, was Sache...