Bittersüße Rache
Am Beginn von Gordon Kampes neuer Oper lässt das Theater Bertolt Brechts grüßen. Über die leere Bühne schlendern die Dramatis personae herbei und bauen sich Kaugummi kauend vor dem Publikum auf: Latzhose und kariertes Hemd, Anzug oder blassrosa Kostüm, Basecap, Farmerhut. Mehr Midwest-Normalität geht nicht, und man fragt sich, ob es in diesem gottverlassenen Ort mit dem lächerlichen Namen «Dogville» jemanden gibt, der nicht Donald Trump gewählt hat.
Als Lars von Trier 2003 seinen Film «Dogville» herausbrachte, ahnte er noch nichts von einem Präsidenten Trump und dessen populistischen Eskapaden. Aber Trier ging es in seiner Mischung aus Brecht, Kleinstadtödnis und Psychothriller auch gar nicht um eine Analyse der US-amerikanischen Provinz, sondern um uns alle. Lauern nicht hinter der Fassade der Wohlanständigkeit immer uneingestandene Enttäuschungen, das zermürbende Elend der Gewöhnung, die sorgsam kaschierten seelischen Abgründe? Da muss nur jemand kommen und die dünne Haut über diesen Abgründen aufreißen – schon entfesselt sich die kollektive Wut.
Dieser Jemand trägt ausgerechnet den Namen Grace (Anmut) und sieht in David Hermanns Essener Inszenierung aus wie Grace Kelly. Als ...
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Opernwelt Mai 2023
Rubrik: Panorama, Seite 57
von Michael Struck-Schloen
Wann haben Sie zuletzt in der Oper geweint?
Bei Julia Kocis verinnerlichtem «Lazarus» in Gottfried von Einems «Jesu Hochzeit» beim Festival Carinthischer Sommer.
Wo würden Sie ein Opernhaus bauen?
Dort, wo es stört.
Ihr Geheimrezept fürs Überleben während der Proben?
Wenn es ums Überleben geht: «Death is not the end».
Welche Oper halten Sie für überschätzt?
Jede,...
Der Furor einer künstlerischen Aussage: Wann greift er uns noch wirklich an? Beim diesjährigen «Opera Forward Festival» in Amsterdam waren es gleich zwei von drei Abenden, die, im existenziellen Sinne, als Appell (mit Dorn), tief bewegten – hinreißend, hirnzerreißend.
Vor dem Eisernen Vorhang im Opernhaus spielt das Ein-Frau-Stück «Perle Noire: Meditations for...
Über den Köpfen des Publikums fliegen die Fetzen, man sitzt mitten im Kreuzfeuer verfeindeter ästhetischer Positionen. Regisseur Guillermo Amaya hat die gegnerischen Lager in seiner Heidelberger Inszenierung auf den Treppen des Zuschauerraumes und an der Bühnenrampe postiert. Komische, Tragische, Lyrische und Hohlköpfe liefern sich einen furiosen Schlagabtausch. In...