Ausweitung der Knutschzone
Die musikalische Magie der letzten Szene wirkt immer. Zunächst nimmt die hohe Feenwelt mit ihrem wundersam galanten, überirdisch in Fis-Dur glitzernden Prozessionsmarsch Abschied: Oberon, Tytania und auch ihr ganzer Hofstaat, hier blitzsauber gesungen und witzig dargestellt von den hervorragenden Kindern der Singschul’ der Oper Graz. Man will sie ob der ungreifbaren Schönheit dieses Ensembles gar nicht ziehen lassen.
Und dann die berühmte Schlussansprache des Puck, stets begleitet von kleiner Trommel und strahlend gelenkiger, virtuoser Trompete, als wäre er ein Artist in der Manege: «So good night unto you all. / Give me your hands, if we be friends, / And Robin shall restore amends.» Wer wäre da, auch durch die letzten Salti der Musik, nicht verzaubert vom Theater?
Größere Herausforderungen bietet das Laienschauspiel der Rüpel, mit dem Shakespeare die eigene Zunft auf die Schaufel nimmt: Das kann sich auch in guten Aufführungen etwas ziehen. Wenn sich aber das Publikum glänzend amüsiert während des rudimentären Tragödchens von Pyramus und Thisbe, das Benjamin Britten etwa auch mit parodistischen Anklängen an «Lucia di Lammermoor» spickt, und danach sogar spontaner Zwischenapplaus aufbrandet, dann muss das Regieteam im Verein mit den Darstellern goldrichtig liegen. Unter den bald rollenden Augen des inszenierenden Quince (Will Frost) gibt also Martin Fournier eine scheu trippelnde Thisbe, scheitert Euiyoung Peter Oh wunderbar kläglich an der Rolle der Wand, fühlt sich Markus Butter als Mondschein nicht ernst genommen, brüllt Wilfried Zelinka den Löwen gut. Und Ivan Oreščanin, der als Bottom zuvor den Esel mit langen Ohren, ansonsten aber in Lederkluft und mit Brusttoupet hatte geben dürfen, kaschiert seine etwas schmale Tiefe in ironischer Manier und lässt die Rampensau raus. Hier Selbstüberschätzung, dort Lampenfieber: Aber nicht bloßgestellt, sondern liebevoll menschlich gezeigt.
Dabei ist diese umjubelte Produktion von Brittens «Midsummer Night’s Dream» durchaus ambitioniert und überrascht auch in ihrer Suche nach einer neuen Bildwelt. Ein Wald bei Athen? Im bühnenbildlosen Theater zu Shakespeares Zeit reichte die Wortkulisse: ein paar Bemerkungen der Darsteller zum Schauplatz. Das Publikum imaginierte sich das Drumherum dann dazu. In der heutigen Oper ist die bloße Bebilderung des Ortes einer mehr oder minder kühnen Interpretation gewichen, einer Sichtbarmachung seelischer Räume – oder einer alternativen Realität. Spielt die Grazer Produktion also an einem ungewöhnlichen oder doch nicht so ungewöhnlichen Ort? Vermutlich ist es Zufall, dass am Wiener Burgtheater vor kaum zwei Jahren Shakespeares Stück zwischen vier halb versunkenen Autowracks gespielt wurde (Bühne damals: Martin Zehetgruber). Und in einer besonders gelungenen, szenisch alternativen Deutung durch Damiano Michieletto (Theater an der Wien, 2018) war Puck ein einsames Waisenkind, das sich in einem Internat mit Neigungsgruppe «Schauspiel» die Eltern als Oberon und Tytania zurückträumt: Diese sind nämlich – und jetzt kommt’s – bei einem Autounfall ums Leben gekommen … Also: Zeigt die Bühne in Graz einen Parkplatz? Warum stapeln sich dann die Flitzer, hängt einer gar an einem Schrottkran? Wohl doch eher ein Autofriedhof. Dann allerdings wären die aussortierten Karossen samt und sonders eines zwar frühen, aber unfallfreien Todes gestorben. Das Chrom blitzt jedenfalls noch, trotz manch fehlender Scheiben und Türen. Das Autokino von anno dazumal taugt wohl als bessere Assoziation: eine geschützte Zone für erotische Anbahnung, vielleicht gar ein Cruising Spot für anonyme Begegnungen. Denn wo auch immer wir inmitten all dieses glänzenden Edelschrotts sein mögen: Das Motto hier lautet Knutschzone statt Knautschzone, Geschlechts- statt Straßenverkehr. Der Wald eines erträumten Griechenland, sein Dickicht und seine Liebesnester, aber auch seine unheimliche Dunkelheit: Er findet seine Übersetzung in ein Klettern über Motorhauben und offene Verdecke, in Begegnungen auf Rücksitzen und Kofferräumen. Da schleichen dunkle Gestalten herum: Männer wie aus dem schwulen Fetischclub, mit langen schwarzen Lederhosen, nacktem Oberkörper unter dem Harness – und Tierköpfen. Vorgänger von Bottom als Esel? Jedenfalls ein Symbol für das Dunkle, Kreatürliche, Archaische, dem die Sexualität angehört, allen zivilisatorischen Reglements zum Trotz. Man sieht also den Wald vor lauter Autos nicht. Dieses Setting zwischen Karosserien und Altreifen mag etwas forciert erscheinen, auch wenn Regisseur Bernd Mottl und Bühnenbildner Friedrich Eggert es im Programmheft als ein Niemandsland zwischen Realität und Phantasie, Naturbedrohung und Klimakatastrophe erklären – und das Auto, analog zum Wald, als Symbol für «Freiheit, Flucht und Romantik» deuten. Aber wichtiger ist, dass sich daraus ein insgesamt erstaunlich zauberhafter Abend entwickeln kann, der im weiteren Erscheinungsbild wesentlich von jener Mischung aus Seventies-Disco-Ambiente und queerem Showbiz lebt, das Alfred Mayerhofers Kostüme einbringen.
Der Countertenor Rafał Tomkiewicz bleibt als Oberon keineswegs entrückt hoheitsvoll, sondern erinnert an Dame Edna, Ekaterina Solunya (Tytania) erweist sich mit ihrem Koloratursopran als fast so gelenkig wie körperreich. Die Sprechrolle des Puck übernimmt eine Dragqueen: Fausto Israel stöckelt im Glitzerbody glorios aufgeregt herum oder schwebt im roten Abendkleid durch die Lüfte. Sieglinde Feldhofer, Sofia Vinnick, Ted Black und der baritonal voll aufdrehende Nikita Ivasechko sind als liebesverwirrte und dabei ausgesprochen wohltönende Menschen mit dabei. Schlusspointe: Trotz offizieller Paarbildung am Ende wollen und werden sie vielleicht doch auch noch anders und andere lieben …
Allerdings: Kurz vor Schluss mit dem Herzogspaar (Daeho Kim, Mareike Janowski) auch noch das Thema «Gewalt in der Beziehung» einzuführen, ist wohl eine Drehung der Schraube zu viel. Vor allem deshalb, weil nicht genug Zeit und Gelegenheit bleibt, um wirklich klarzumachen, ob der Herzog nun einfach ein Verbrecher ist, der seine von ihm abhängige, vielleicht sogar zur Ehe mit ihm genötigte Frau prügelt, oder ob da etwa die Einvernehmlichkeit einer korrekten SM-Beziehung herrschen könnte. Wie dem auch sei: Dass der Abend als Ganzes so glänzend und markant gerät, ist neben dem guten Ensemble auch den Grazer Philharmonikern und ihrem Dirigenten Johannes Braun zu danken: Sie kosten Brittens wundersame Partitur, eigentlich für die winzige Jubilee Hall in Aldeburgh geschaffen, im großen Haus voll aus – mit symphonischem Gusto und zugleich aller Liebe zu den komisch-koloristischen, virtuosen Details.
Britten: A Midsummer Night’s Dream
GRAZ | OPER
Premiere: 10. Mai 2025
Musikalische Leitung: Johannes Braun
Inszenierung: Bernd Mottl
Bühne und Licht: Friedrich Eggert
Kostüme: Alfred Mayerhofer
Choreographie: Christoph Jonas
Kinderchor: Andrea Fournier
Solisten: Rafał Tomkiewicz (Oberon), Ekaterina Solunya (Tytania), Fausto Israel (Puck), Sofia Vinnik (Hermia), Ted Black (Lysander), Sieglinde Feldhofer (Helena), Nikita Ivasechko (Demetrius), Daeho Kim (Theseus), Mareike Jankowski (Hippolyta) u. a.
www.oper-graz.buehnen-graz.com

Opernwelt Juli 2025
Rubrik: Im Focus, Seite 16
von Walter Weidringer
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