Die Bühne lebt
Das Spielzeit-Motto der Komischen Oper prangt im Dunkeln neben den hohen Hallen am Zaun zum Tempelhofer Feld: #allesaußergewöhnlich. Tatsächlich verwandelte sich der ehemalige Flughafen-Hangar 4 von August bis Oktober für Händels Oratorium „Messias“ in einen außergewöhnlichen Ort – mit Auf -, Abbau und Proben. In die denkmalgeschützte Halle wurde über mehrere Wochen hinweg eine komplette Spielstätte für Musiktheater gesetzt (siehe Interview Seite 19).
Mit der für ein Opernhaus und die Produktion nötigen Infrastruktur für das Stück – von Bühne und Tribüne (Nüssli), über die gesamte Technik inklusive Rufanlage in alle Räume, Zelte, Container bis hin zu Garderoben, Fundus und Kantine. Wieder ein echtes Abenteuer, nach dem Umzug ins Schillertheater, dem Betrieb mehrerer Spielstätten in der Stadt – und den Überlegungen des Berliner Senats noch im September zu drastischen Sparmaßnahmen und einem Baustopp in der Behrenstraße, im Stammhaus der Komischen Oper.
Geschichte vom Leben
Die Komische Oper hatte bereits im Herbst 2023 einen Aufruf an Chöre, Sänger und Sängerinnen geschickt, um viele interessierte Menschen für ein großes Projekt zu gewinnen. Nach Hans Werner Henzes „Das Floß der Medusa“ (BTR 6/2023) im letzten Jahr folgt erneut ein Oratorium, nun Georg Friedrich Händels „Messias“, eines der populärsten Werke geistlicher Musik, gespielt vom Orchester der Komischen Oper. Die Idee, den weiten Raum des Hangars diesmal mit mehreren Hundert Menschen zu bespielen, lag angesichts einer Bühnenfläche von 60 Metern Länge und 20 Metern Tiefe auch nahe. Etwa 350 Sänger:innen aus Berliner Chören und der Chor der Oper mit mehr als 40 Menschen treten in der Inszenierung auf. Und erinnern an die Tradition dieses Werks, für das ab dem 19. Jahrhundert größere Chöre gemeinsam sangen, an Händels 100. Todestag kamen sogar mehr als 2700 Sänger:innen im Londoner Crystal Palace zusammen. Doch die Inszenierung in Tempelhof geht über ein reines Chorwerk hinaus: Regisseur Damiano Michieletto bettet in das Werk um den christlichen Erlösungsgedanken gespielte Szenen ein – um das heute kontrovers diskutierte Thema Sterbehilfe. Inspiriert zu dieser Erzählweise wurde der Regisseur vom Schicksal der jungen Amerikanerin Brittany Maynard, die 2014 eine Krebsdiagnose erhielt und sich für einen ärztlich begleiteten Suizid entschied. Die Geschichte der 29-jährigen Frau habe ihn jahrelang beschäftigt, erzählt er, die Konfrontation mit ihrem Tod, die Reaktionen ihrer Familie, das Ringen um Akzeptanz und Annehmen ihrer Entscheidung, aber auch die Rolle der Öffentlichkeit. Auch wenn Maynards Geschichte nichts mit den Psalmen des Librettos zu tun habe, sieht Michieletto dennoch Verbindungen. Ein Hirntumor drohte es der jungen Frau unmöglich zu machen, selbstbestimmt über ihr Leben und Sterben zu entscheiden. Die aktive Entscheidung für Sterbehilfe sei eine Befreiung. Doch eine solche Tragödie zu durchleben, ohne sich dabei als Opfer zu begreifen, sei für ihn dann doch eine Form der Auferstehung. Man bliebe sich selbst gegenüber präsent, bevor die Krankheit einem alles wegnimmt. Michieletto erzählt weniger die tragische Seite der Krankheit, sondern eher wie eine Krankheit einen die Welt, unsere Endlichkeit sehen lässt. Niemand könne auf seine Geburt Einfluss nehmen, aber über unseren Tod könnten wir bestimmen, betont er. Der Messias besteht aus scheinbar bunt zusammengestellten Bibelstellen, eine Geschichte wird nicht erzählt. Dennoch sei ein Gemeinschaftsgefühl, eine Sehnsucht nach verlorener Harmonie zu spüren, so der Regisseur. Für Michieletto hat Händels Werk eine große Leichtigkeit, die den Künstler so modern mache.
Bewegte Bilder
Die drei Teile in Händels Oratorium erzählen von Jesu Ankunft, dem Messias, seiner Geburt, dessen Passion, Tod und Auferstehung und endet mit der Erlösungsbotschaft für die Menschheit. Dieser musikalischen und textlichen Ebene fügt Michieletto also die Geschichte einer Frau, hinzu. Die vier Solopartien verkörpern dabei die Ärztin (Sopran), die Mutter (Alt), den Vater (Bass) und den jungen Ehemann (Tenor). Auf dem weiß gestalteten Bühnenboden, im weiten Raum des Hangars entfaltet sich zu Händels Musik die Geschichte der jungen Frau und ihrer Familie – vom Glück mit ihrem Mann, über die Diagnose des Tumors, den Weg zur Entscheidung bis zu ihrem selbst gewählten, würdevollen Sterben. Mehr als 300 Menschen, der Chor der Komischen Oper und der Projektchor, singen und spielen diese Szenen mit. Verkörpern eine fröhlich bunte Menge, die das Leben feiert, oder einen wütend protestierenden Mob, wenden sich mitfühlend während einer MRT-Untersuchung der Frau zu. Die choreografierten Bewegungen der Menschenmenge im Raum, das konzentrierte Mitspielen und Miteinander der vielen Darstellenden sind besondere Momente in der Inszenierung, die eine enorme Kraft als Bild und stimmlich ausstrahlen. 1200 m2 Bühnenfläche werden mal raumgreifend, dann fokussiert bespielt, die Protagonistin läuft zwischen Angst und Zweifeln quasi um ihr Leben durch den Raum. Eindringlich, ausdrucksstark singen und agieren die vier Solostimmen, im Wechsel mit Einspielern zu den Gedanken der Frau. Für die konzentrierten, stillen Szenen muss die Inszenierung mit verschiedenen, auch effektvollen Requisiten auskommen – Tisch und Stühle, eine riesige rote Kugel und eine Lorbeerpflanze, MRT-Gerät (echt!) und Drucker. Unter der Decke hängt ein orangefarbener Drachen, für eine große Sterbeszene braucht es Hunderte weiße Laken, für einen Protest viele Schilder. Mit einem überraschenden Effekt endet das Oratorium: Der 300-köpfige Projektchor – nun gekleidet in grüne, floral gemusterte und individuelle Kostüme, von Klaus Bruns entworfen (in den ersten beiden Teilen trugen die Chöre private Sommerkleidung) – bedeckt den gesamten Hallenboden mit Rasen- und Pflanzenstücken. Ein großer Garten, ein lebendiges Bühnenbild entsteht, ein vom Bühnenbildner Paolo Fantin bewusst gewählter, starker Kontrast zum Stahl und Beton der Halle. Über allen fällt beim „Amen“ im Schlussbild rauschend der Regen von der Hallendecke, die Erlösung. Das neue Wachsen, neues Leben beginnt, ein hoffnungsvoller Blick. Großer Applaus für eine mutige Produktion.
Kunst weitertragen
Alles außer gewöhnlich war der Messias auch für die ca. 350 Laien-Sänger:innen, die vom Frühjahr bis in den Sommer mit vielen Proben beschäftigt waren. Ab Anfang September ging es zwei Wochen im Hangar weiter, bei Sommerhitze und Herbstkühle, zwölf Aufführungen wurden gespielt. Ob das zu schaffen sei, fragten sich viele, neben beruflichen und anderen Verpflichtungen. Die Proben brauchten Liebe zur Musik, eine Menge Zeit und Konzentration, aber auch Interesse und viel Geduld für den Arbeitsprozess. Dieses Experiment miterleben zu wollen, sich auf etwas Anspruchsvolles einzulassen, einte alle Teilnehmer:innen – den Messias auf Englisch auswendig singen, spielen, sich bewegen auf großer Bühne. Teil der künstlerischen Arbeit ganz nah zu sein, hat die Sänger:innen aller Altersgruppen, mit unterschiedlichen gesanglichen Erfahrungen und Ambitionen über mehrere Wochen verbunden, sie begeistert und immer mutiger, freier in ihrem Spiel werden lassen. Ein Ereignis! „Das war wie baden in schönem Klang“, fasst eine Mitsängerin sehr erfüllt zusammen. In diesem „Messias“ im Großformat, als Community-Projekt der Komischen Oper organisiert, wuchs unter professioneller Begleitung eine außergewöhnliche Gemeinschaft aus vielen Einzelnen. Die mehr als 300 Beteiligten auf der Bühne, inszeniert als großes Ganzes in Bewegung und Klang, schufen starke Momente und Bilder. Das christliche Werk kombiniert mit einem zeitgenössischen Thema, von dem viele Menschen – auf der Bühne und im Publikum – auch persönlich berührt und betroffen sind, hinterließ eine Menge Gesprächsstoff. Die Arbeit mit vielen Laiensänger:innen auf der Bühne war auch für die Beteiligten der Komischen Oper sehr erkenntnisreich. Für eine Neuproduktion in einem Hangar in Tempelhof im kommenden Jahr gibt es bereits Planungen. Besser kann die Komische Oper ihre künstlerische Arbeit kaum nach außen tragen – und mit einem außergewöhnlichen, partizipativen Format das Theater als einen realen Ort zeigen, der viele Menschen verbindet.

BTR Ausgabe 6 2024
Rubrik: Produktionen, Seite 16
von Iris Abel
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