Satiriker des Schmerzes
In «Sanft und grausam», einer Adaption von Sophokles’ «Trachinierinnen», sagt eine Leibesvisiteurin mit Gummihandschuhen am Flughafen zu einer verzweifelten Frau: «Sie haben eine Waffe versteckt. Ich spüre sie neben ihrem Herzen.» Die Frau antwortet: «Ach, wirklich? Meinen Sie die Liebe?» Aber die Antwort ist: «Nicht Liebe, nein, ich rede von diesem Stachel.» – Dieser Stachel neben dem Herz, das ist der Splitter, mit dem Martin Crimps Figuren ihre Sätze ins Wachs der Geschichte ritzen.
Ein quälendes Objekt, verwachsen mit der Zuneigung, das aktiv werden und auch andere verletzen kann: durch Sprache, die in deren Herzen schneidet.
Jede und jeder in der Welt des Martin Crimp hat so eine Waffe. Die meisten empfinden sie als Verteidigungswaffe, aber auch als solche dient sie dazu, in die Sicherheit der Anderen zu schneiden. Für irgendwen ist sie immer schädlich, diese am Schmerz geschliffene Sprache, meist für alle. Und so viel Mühe sich auch jedes Wesen in den modernen Zivilisationsszenen dieser Stücke gibt, den Angriffscharakter ihrer spitzen Extra-Herzklappe zu verbergen, Martin Crimps Leibesvisitation ohne Gummihandschuhe dringt immer vor bis zu den Schmerzobjekten unter der Haut. ...
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Theater heute Mai 2021
Rubrik: Laudatio, Seite 34
von Till Briegleb
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