Abschied vom weißen Mann in den besten Jahren
Die Natur, die Goethes Werther einst schwärmerisch zu umfassen suchte, ist brüchig geworden. Sie ist ein Hörensagenphänomen. So wie Regisseurin Lilja Rupprecht sie an diesem Abend ins Schauspiel Hannover holt: Wellen schwappen auf dem Videoscreen so zähflüssig, als wären sie schon ein Ölteppich. Ein Fotoplakat prangt mit dem Versprechen auf «Natur» und werbeästhetisch-roter Erdbeere. Darunter radelt sich Sebastian Nakajew auf einer Art Hometrainer den Wolf. Wir sind auf der Hälfte des Romans.
Werther nimmt gerade Reißaus von der fatalen Ménage à trois, in der er sich mit Lotte und Albert verloren hat. Nakajew tritt in die Pedale, und Drumbeats schwellen an, das Licht flackert heller. Er lässt ab, und die Energie versiegt, Sound und Lampen fahren runter. Und dann von vorn. Das Bild ähnelt dem, das Katie Mitchell dereinst für ihre Klimanotstandsreflexion «Atmen» an der Berliner Schaubühne wählte: Die Muskelkraft am ewigen Hamster(fahr)rad bringt schmerzlich in Erinnerung, was so ein Bühnenraum an Kilowattstunden Energie frisst.
Multimedia-Fantast Werther
Es ist der Herbst ’19, ein Herbst für die Geschichtsbücher. Draußen vor den Theatertüren gehen Millionen junge Menschen für eine ...
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Theater heute November 2019
Rubrik: Starts, Seite 20
von Christian Rakow
Neue Stücke
Alle Vögel sind schon da, auch der «Bookpink». So heißt der Buchfink nämlich auf Plattdeutsch. Carmen Jeß’ doppelt preisgekröntes «dramatisches Kompendium» anthropomorphisiert beherzt Pfauen, Tauben, Puten, Spatzen, indem sie ihnen sprachlich raffinierte, vogelgesellschaftskritische Szenen aufs Federkleid schreibt. Anja Michael Wohlfahrt inszeniert die...
Kohlenrutsche, Müllschlucker, Schüttgutrampe – Olaf Altmanns Bühnenbild ist eine Großmetapher, eine graue Halfpipe des Geschichtsfatalismus. Es geht nur abwärts, keiner kommt empor, alles rauscht bergab. Entweder man bleibt hübsch oben in Distanz, oder man saust abwärts mit rasanter Fahrt in den Abgrund auf die Vorderbühne, zurückklettern geht nicht. Allenfalls...
«The End» prangt von Beginn an als Leuchtreklame auf dem Königs-Bungalow, und der Horizont dahinter wölkt sich in Nina Pellers Bühnenbild leuchtend wie im Abspann eines 50er-Jahre-Westerns in Technicolor. Doch das Ende ist das eine, was danach kommt, das andere. Weg mit den weißen alten Männern, das ist inzwischen fast überall der Konsens der Stunde; und...