Oratorium der vergessenen Stimmen
Das 6. Festival Internationale Neue Dramatik an der Schaubühne beginnt in ein paar Tagen, und noch immer gibt es keine Nachricht von Debbie Tucker Green. Kommt sie zur szenischen Lesung ihres neuen Stückes «Stoning Mary» oder kommt sie nicht? Ihr Londoner Verlag weiß es nicht, E-Mails, die Bekannte an Tucker Greens Privatadresse weiterleiten, werden nicht beantwortet.
Wir treffen uns zur ersten Probe. Bevor wir anfangen, wollen die Schauspieler etwas über diese englische Autorin wissen, von der sie noch nie etwas gehört haben.
Ich erzähle, was ich weiß: Tucker Green hat jamaikanische Vorfahren, verweigert jegliche Auskunft über ihr Alter und ihren Wohnort und gibt selten Interviews. Im «Guardian» war ein kleines Foto: eine junge Frau mit schwarzem Kopftuch und Silberohrringen steht vor einer roten Wand und schaut schüchtern oder konzentriert nach unten.
Das erste gemeinsame Lesen ist schwierig. Die Sprache ist fragmentiert, Satzteile fehlen, Wörter werden wiederholt, variiert und ändern ihre Bedeutung. Die Form entspricht dem Gemütszustand der Figuren: wenn man dem Rhythmus der Sprache folgt, kommt man den Figuren auf die Spur und entdeckt, dass sie sich in einem permanenten ...
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