Mit aller Wort- und Tränenkraft
Da stehen sie nun, die beiden stolzen Königinnen, und belauern sich: Elisabeth von England zeigt ihrer Konkurrentin den Rücken, entsetzt über deren Jugend, deren Schönheit, deren Unbeugsamkeit auch nach Jahren im Kerker.
Maria Stuart wendet all ihre Wort- und Tränenkraft auf gegen Elisabeths Zorn und Furcht, die ihr da von kalter Schulter entgegenströmen, streckt der entfernten Schwester kraftvoll-bittend die Arme entgegen – und wird ihr doch bald ins Gesicht schleudern: «Ich bin dein König!» Ihren Stolz hat die Papistin nicht im Griff, die hohe Stirn strebt zum Himmel, während das lange, schwarze Kleid ihre Beine umspielt – und Elisabeth in ihrem Hosenanzug festzustecken scheint wie in einem Korsett. Die agile, wendige, ihre Sinnlichkeit ausspielende Zenzi Huber und die zierliche, strenge, furchtsam hadernde Mechthild Grabner geben ein feines Duo ab, voll Spiellust und dem Willen zum großen Drama. Und vielleicht zeigen sich in diesem ungleichen Paar auch die Bannkräfte der Macht, die nicht nur schenkt, sondern auch bindet: Um wie viel freier wirkt die Gefangene bisweilen, wie viel größer ihre Spielräume als die der Elisabeth, die von vorn herein abgezirkelt zu sein scheinen!
Weibliche Doppelspitzen
Man mag es nicht für einen Zufall halten, dass die neue Intendanz des Landestheaters Marburg ihre Spielzeit mit Schillers Königinnendrama «Maria Stuart» eröffnet, ergänzt von einem Shortcut von Jelineks «Ulrike Maria Stuart». Denn auch das Marbuger Theater leiten nun zwei Frauen – allerdings, anders als die verfeindeten Tudor-Schwestern, in offenkundiger Einigkeit und mit dem Willen, die Macht zu teilen. Das Spiel von Macht und Verantwortung, Freiheit und Gestaltungswillen aber ist damit auch entfesselt – das macht Eva Langes dichte, intensive und zugleich auch lässig-verspielte Eröffnungsinszenierung klar. Die Regisseurinnen Eva Lange und Carola Unser haben das Haus nach acht Jahren unter Matthias Faltz übernommen, als erste Doppelspitze eines hessischen Theaters – und damit auch die Frauenquote ordentlich angehoben: Lediglich das Stadttheater Gießen wird mit Cathérine Miville auch von einer Frau geleitet, alle größeren Häuser von Kassel bis Wiesbaden befinden sich zurzeit unter männlicher Führung.
«Wir haben uns als Leitungsteam beworben, weil wir denken, dass es an der Zeit ist, dass auch Theater moderne Unternehmenskonzepte versuchen», erzählt Eva Lange, zuvor Oberspielleiterin der Landesbühne Niedersachsen Nord. «Wir denken, dass wir im Team mehr sind als die Summe unserer Teile, und wir glauben, dass es sich positiv auswirkt, wenn sich der Wunsch nach Diskurs schon in der Spitze abbildet.» So wollen sie von ihren unterschiedlich gelagerten Expertisen profitieren – Carola Unser leitete als Regisseurin und Theaterpädagogin zuletzt die Junge Landesbühne an der Landesbühne Niedersachsen Nord, Wilhelmshaven – und Demokratie bis in die Leitungsspitze praktizieren.
Ihr Spielplan steht unter dem Leitmotiv «Transit leben» und ist ein Kaleidoskop mit Klassikerinszenierungen und Evergreens wie «Cabaret», «Der Kirschgarten» und «Die Verwandlung», denn die Inszenierungen des Landestheaters reisen weit durch die hessische Provinz. Daneben stehen zahlreiche zeitgenössische Stoffe, von Anja Hilling beispielsweise, Miroslava Svolikova und der Künstlerinnengruppe um Susanne Zaun und Marion Schneider, die in dieser Saison Artists in Residence am Landestheater ist. Ach ja, und 13 der 17 Premieren werden von Frauen inszeniert. Lange und Unser haben sich ein junges Team ans Haus geholt, und ein ebenfalls recht junges Ensemble – darunter einige Spieler*innen mit Migrationshintergrund.
Haratischwilis «Radio Universe»
In «Maria Stuart/ Ulrike Maria Stuart» wirkt das Ensemble bereits überraschend gut eingespielt, und man freut sich, mehr von ihm zu sehen. Auch wenn der Betrieb noch etwas holperig anläuft und die Vorstellungen nach der Premiere schlecht besucht wirken – die Marburger*innen müssen ihren Weg ins Landestheater offenbar noch finden. Doch auch dafür haben Unser und Lange zahlreiche Strategien entwickelt: Es gibt einen Zuschauer*innenrat, der zu freiem Eintritt die Saison begleitet und sich über seine Seherfahrungen austauscht. Seine Mitglieder sind 18 bis 80 Jahre alt. Es gibt jugendliche Theaterscouts, und man kann als Pate oder Patin einem Kind Theaterbesuche ermöglichen. «Wir versprechen uns davon erstmal, unser Publikum besser kennenzulernen, seine unterschiedlichen Wahrnehmungen», meint Lange. Und Unser fügt hinzu: «Wir sind immer auf der Suche danach, wie Theater ein Lebensort werden kann, ein Ort, wo man sich begegnet und austauscht, wo man sein eigenes Milieu verlässt und grenzübergreifend Menschen trifft.»
Grenzübergreifend ist auch die zweite Eröffnungspremiere, eine Koproduktion mit Georgien, dem Gastland der diesjährigen Frankfurter Buchmesse: In «Radio Universe» lädt Nino Haratischwili zu einer Reise durch die Nacht. Die Autorin und Regisseurin, geboren in Tiflis, wohnhaft in Hamburg, stand zuletzt mit ihrem Roman «Die Katze und der General» auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises. In «Radio Universe» verknüpft die souveräne Erzählerin die Schicksale von fünf Menschen und einem Hund miteinander, während des Fünf-Tage-Krieges zwischen Georgien und Russland im August 2008.
Auf die Bühne des Landestheaters hat Julia Bührle-Nowikowa ein schwarzes Gerüst mit verschiedenen Spielflächen gestellt, die kippen können wie eine Wippe und sanft von Lichterketten erhellt werden. In dieser dämmernden Schwärze irren die sechs Figuren stets aneinander vorbei. Unfreiwillig verstärkt wird das Vorbeiirren von der Zweisprachigkeit – zwei der Schauspieler*innen sprechen Georgisch – und von Haratischwilis Regie, der es nicht immer gelingt, die Stränge klar genug zusammenzuführen. Und doch entwickelt das kollektiv-vereinsamte Driften durch die Nacht immer wieder einen besonderen Sog, begleitet und kommentiert von dem sehnsüchtigen Radiomoderator Jo (Daniel Sempf), der sich an Liedwünschen der Hörer*innen entlang hangelt, während es in Deutschland schneit, Zoe (Lisa Grosche) in einer Bar Gin ausschenkt und die so abgerockte wie charmante Adel (Nino Burduli) wie jede Nacht ein Mädchen beobachtet, das auf eine Fensterbank klettert, um nicht zu springen. Oder?
Der Fünf-Tage-Krieg, eine Randnotiz, ist bis heute nicht vorüber. Immer noch verschiebt Russland seine Grenzen. Und so sind die beiden ersten Premieren des Landestheaters ein engagiertes Versprechen, dem man viele Gäste wünscht und ein solides Fahrwasser für den Fortgang. Damit das Landestheater Marburg werden kann, was Lange und Unser sich erträumen: «Das Theater ist für uns der unglaublichste Ort.»
Nächste Vorstellungen:
Maria Stuart/Ulrike Maria Stuart, Theater Marburg: keine Vorstellungen im November
Radio Universe, Theater Marburg: keine Vorstellungen im November
www.hltm.de

Theater heute November 2018
Rubrik: Start Marburg, Seite 32
von Esther Boldt
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