Marianne gegen alle
Auf der Bühne vor einem projizierten Totenkopf liegen Leichensäcke neben einem frischen Kindergrab. Zwei schwarz verhüllte Gestalten machen sich an den weißen Plastikhüllen zu schaffen und murmeln: «Die Leute glauben, wenn sie sterben, wäre alles vorbei – so wär’s ja leicht, ein Mensch zu sein.» Nein, nichts ist vorbei in Karin Henkels Bochumer Inszenierung von Horváths «Geschichten aus dem Wiener Wald». Alles ist von heute. Die Toten stehen wieder auf und zeigen uns: Es ist nicht leicht, ein Mensch zu sein.
Der erste Mensch, der ausgepackt wird, ist Marianne, eine puppenhaft geschminkte Frau im steifen rosa Tütü. Die Leichenwärter hängen sie an einen Haken, dann wird sie in der Bühnenmitte in ein schwarzes Loch versenkt. So häuft die Inszenierung schon zu Beginn Todesmetapher auf Todesmetapher. Die negative Energie wird aufgeladen, die das ganze Stück in Bewegung setzen wird.
Diese Marianne ist die einzige positive Gegenkraft. Sie befreit sich aus ihrem Puppendasein als Tochter des Spielwarenhändlers, die den Fleischer von nebenan heiraten soll, und wirft sich dem windigen Rennbahnspekulanten Alfred an den Hals. Man denkt diesmal nicht, «Wie dumm ist sie!», sondern «Recht hat ...
Weiterlesen mit dem digitalen Monats-Abo
Sie sind bereits Abonnent von Theater heute? Loggen Sie sich hier ein
- Alle Theater-heute-Artikel online lesen
- Zugang zur Theater-heute-App und zum ePaper
- Lesegenuss auf allen Endgeräten
- Zugang zum Onlinearchiv von Theater heute
Sie können alle Vorteile des Abos
sofort nutzen
Theater heute Dezember 2019
Rubrik: Aufführungen, Seite 19
von Gerhard Preußer
Wie schnell man einen Ausnahmezustand für die Normalität halten kann, zeigt sich, wenn man das Ungewöhnliche der Ausnahme unter die Nase gerieben bekommt. Zum Beispiel im Genre des zeitgenössischen Zirkus. Dort lassen Artisten auch die absonderlichsten Leistungen meistens ganz leicht aussehen – ob sie sich nun zu Drei-Mann-Türmen übereinander stapeln oder einander...
Selten so einen gründlich desillusionierten Odysseus gesehen: Die fahlen Furchen im unrasierten Gesicht von Jörg Pose erzählen nichts von griechischer Größe, sondern nur von Müdigkeit, Entbehrung und einer Sorte von Gedanken, die sich ausschließlich noch mit dem Überleben beschäftigt. Der Körper in seiner grobgepixelten Fantasie-Militärkluft steht zwar gerade,...
Wer ist der Gott des Rausches und der Lust? In Jan Philipp Glogers Nürnberger Inszenierung ist Dionysos ein geschlechtlich undefinierbares Wesen, dem die prüde, brav-bürgerliche Gesellschaft nicht traut: Das Fremde ist perfide und trägt verschiedene schillernde Kostüme. Am Ende feiert eine queere Truppe fummel- und farbenfroh den Sieg über das konventionelle Denken...
