Lausche den Vögeln
Am Ende also Elton John. Ganz große Gefühle, intoniert vom soften Flehen der siebziger Jahre. Kinderstimmen lachen im Hintergrund der Tonaufnahme, dazwischen: Vogelgezwitscher, Wellenrauschen. Kurz denkt man, jetzt havariert der Abend unrettbar an riesigen Kitschklippen, jetzt wird er gnadenlos gefühlig, haltlos tränenrührig. Nach zweieinhalb Stunden also Elton John. Und ausgerechnet «Love Song». Dessen Lyrics sind melancholisch, moralisch, überdeutlich: «Love is the opening door / Love is what we came here for.
»
Doch der Regisseur Alexander Giesche konterkariert, unterspielt. Ungerührt und mit dem Rücken zum Publikum stehen die Schauspielerin Nadine Geyersbach und der Schlagzeuger Paul Amereller da und betrachten die Bühne, deren hinteres Drittel sich langsam zur Schräge bäumt. Amereller schlenkert unbekümmert, gut gelaunt mit den Armen, von Ehrfurcht oder Rührung keine Spur. Stattdessen stehen da zwei Menschen in Loose-fit-Hoodies (Kostüme Felix Siwinski) und schauen amüsiert dabei zu, wie ein paar hundert auf der Bühne verstreute VHS-Kassetten ins Rutschen geraten. Abrupt bricht der «Love Song» ab, die Bühne wird dunkel, die Aufführung ist vorbei. Ein Abend, der vorsichtig tastend begonnen hat. Und der von nichts weniger erzählt als vom «Verbundensein».
So lautet der Titel des Essays, den Kae Tempest 2021 geschrieben hat und der in diesem Jahr auf Deutsch erschienen ist. Es ist ein Selbstporträt, das Ängste und den zerstörerischen Wunsch nach Anerkennung genauso beschreibt wie die Suche nach mehr Mitgefühl und Menschlichkeit in der Gesellschaft. Sprachlich bewegt sich der Text eher auf dem Level besserer Tagebuch-Einträge, von der schlaglichtartigen Dringlichkeit, die man von der nonbinären britischen Spoken-Word-Performer:in gewohnt ist, findet sich darin wenig.
Statt mit pointierten Lyrics füllt Tempest 130 Seiten mit wenig überraschenden, oft recht naiven Erkenntnissen über die Abstumpfung als «logische Reaktion auf den Ansturm der Zeit», und über den Versuch, diese Abstumpfung mittels einer «Politik des Mitgefühls» in Hingabe und Neugier zu verwandeln. Offen schreibt sie über ihren Drogenkonsum sowie ihre Angst vor und ihre Erfahrung mit öffentlichen Auf -tritten. Inhaltlich federt sie die mäßig interessanten Innenansichten ab mit der Kategorisierung zwischenmenschlicher Basics als vermeintlich neu entdeckte Weisheiten und «Gegengift» für die Verwerfungen des Kapitalismus.
Am Gaskocher
Um so erstaunlicher, wie Giesche auf Grund -lage dieses Textes ein beeindruckender Theaterabend gelingt. Vielleicht, weil er sich auf ein paar wenige Passagen aus dem Essay beschränkt, ganz sicher aber, weil Giesche das Leitmotiv des «Verbundenseins» ganz und gar wörtlich nimmt und es in lose, poetische Bilder auf die Bühne übersetzt. Und es wäre kein «Visual Poem» von Alexander Giesche, wenn nicht die Bühne (Alexander Giesche, Anka Bernstetter) und Bühnenmaschinerie – neben den beiden Performer:innen – die dritte Hauptrolle einnähme. Zunächst ist sie leer, irgendwo weit hinten fällt permanent Wasser herunter wie aus einem offenen Rohrbruch. Arbeits- und Saallicht sind an, und nachdem Geyersbach mit Wechselatmung ihren Puls einigermaßen beruhigt hat, beginnt sie konzentriert und schweigend mit dem Einrichten des Raums.
Sie durchquert ihn, unternimmt eine Testfahrt auf der Drehbühne, überprüft die Funktionstüchtigkeit der Scheinwerfer. Dann geht sie ab, um von der Seitenbühne ein Podest mitsamt Schlagwerk hereinzuschieben. Leise beginnt Paul Amereller darauf zu spielen, während Geyersbach ein Mikrofon nah an einem entzündeten Gas-Campingkocher ausrichtet. Das verstärkte Rauschen wird den ganzen Abend andauern, ist dessen akustischer Zeitmesser: Wenn die Kartusche leer ist, ist die Performance vorbei.
Geyersbach vollzieht all diese Maßnahmen in einer Mischung aus sorgsamer Routine und nervöser Unruhe. Sie ist nahbar und spröde, bühnensicher und brüchig zugleich. Die Bühne wird ihr Raum, sie lässt steile Rampen entstehen genauso wie Abgründe. Da fährt eigens für sie eine Zugstange herunter, um ihr vom Liegen aufzuhelfen. Da lässt sie Paul Amereller während eines seiner grandiosen Schlagzeugsoli zu den flirrenden Kompositionen von Ludwig Abraham in den Bühnenhimmel abheben. Später senkt sich unvermittelt ein Teil des Bühnenbodens ab, ein Krater entsteht, den Geyersbach dann wie ein Astronaut fast schwerelos durchschreitet, so als wolle sie verbildlichen: «Verbundensein ist das Gefühl, in der Gegenwart zu landen.» Später füllt Nebel den Raum und wird von bunten Scheinwerfern effektvoll durchkreuzt.
Oft aber scheint diese Bühne für Geyersbach auch ein Angstraum zu sein. Riesig, leer und abgekoppelt vom Publikum, für das sie im Laufe des Abends immer wieder Rituale des Verbundenseins sucht und finden wird. So akti -viert sie die Zuschauer:innen etwa zum gemeinsamen Singen und Summen oder lässt sie sich eine mit Lakritz, Schokolade, Gummibärchen, Popcorn und Salzbrezeln gefüllte Snack-Schüssel teilen. Sie macht aus ihnen SMS-Botschafter:innen, deren LOL-Wie lange noch?-Herz-Zwinkersmiley-und-Kann jemand meinen Rasenmäher reparieren?-Nachrichten live auf einem Display erscheinen und lädt sie ein, mit ihr gemeinsam eine bühnenfüllende Dominoschlange aus VHS-Kassetten aufzubauen. All diese Aktionen entstehen wie nebenbei, und in allen sucht Geyersbach mit wenigen Worten und zurückhaltenden, einladenden Gesten nach dem «Verbundensein».
Immer wieder liest Geyersbach aus Tempests Buch, ihrem einzigen Requisit. Und gerade durch dieses Lesen schafft sie eine wichtige Distanz: Sie wird nie zur Ich-Erzählerin, sondern bleibt stets eigenständige Performerin, die Tempests Notizen halblaut befragt und gelegentlich mit ihrer eigenen Realität abgleicht. Dann wird der Text der Rapperin zum Text einer Schauspielerin. Werden deren Worte allgemeingültig für Bühne, Erleben und Theater, Sprache, Stimme, Präsenz und Performance. Ob sich im Laufe des Abends bei den Zuschauer:innen tatsächlich ein gemeinsamer Puls einstellt, wie eine im Buch zitierte Studie festgestellt haben will, und ob «Leg dein Handy weg. Lausche den Vögeln» der Weisheit letzter Schluss ist, bleibt mehr als fragwürdig.
Aber so ruhig, konzentriert und scheinbar zufällig wie Giesche Szenen, Bilder und Atmosphären nebeneinander stellt, immer unkommentiert, manchmal selbstredend, oft verrätselt und assoziativ, so ernsthaft wie Geyersbach und Amereller diese scheinbar aus dem Moment heraus performen, so scheinbar beiläufig entsteht daraus ein seltsam schöner, entwaffnend ehrlicher Abend: ein leiser Appell an die Empathie und nicht zuletzt eine Eloge an das Theater als gemeinsamer Raum.
NÄCHSTE VORSTELLUNGEN:
Verbundensein, Theater Bremen: 3., 9., 24. Juni www.theaterbremen.de

Theater heute Juni 2023
Rubrik: Aufführungen, Seite 6
von Katrin Ullmann
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