Hannover: Symbolbehausungen
Mit einem Dräuen hebt es an; eine Tür knarrt, eine Fliege surrt, dann bebt ein Signal, wie aus einem Nebelhorn in die Luft gebohrt. Die Töne kommen aus den unteren Stockwerken des Hauses, aus denen die dreiköpfige Bürgerfamilie samt Dienstmädchen Cruche gerade geflohen ist und weiter fliehen wird. Immer höher hinauf, bis ins Dachgeschoss, wo der Platz eng wird. Aber das sinistere Geräusch kriecht ihnen bis in die letzten Winkel nach. «Ich habe Angst», leitmotivelt Tochter Zènobie schon früh an diesem Abend.
Das Schauspiel Hannover hat sich Boris Vians suggestive Parabel «Die Reichsgründer oder Das Schmürz» zum Saisonstart vorgenommen. Uraufgeführt 1959, kommt sie aus der Hochzeit der bissig absurden Dramatik eines Eugene Ionesco oder Harold Pinter herüber. Mit hohler Pathetik feiern sich Vians Fluchtbürger bei ihrem Aufstieg ins Nirgendwo, gängeln das Töchterchen und verhauen in regelmäßigen Übersprungshandlungen «das Schmürz», ein symbolhaftes Mullbindenwesen, das in der Ecke des Raumes kauert und so etwas wie die Verkörperung des Angst- und Wutkomplexes ist, der hinter den Leerlaufdialogen lagert. «Unser Beispiel ist in der Tat beispielhaft», solche Sätze sagen diese ...
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Theater heute Oktober 2016
Rubrik: Chronik, Seite 51
von Christian Rakow
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