Die große Horror-Kontinuität
Theater heute In «Altbau in zentraler Lage» geht es unter anderem um eine eher unfreundliche Entmietung und den Mietwohnungsmarkt; ein großes Thema, das viele Menschen umtreibt. Wie steht es um Ihre derzeitigen Wohnverhältnisse?
Raphaela Bardutzky Ich hoffe mal, dass mein Vermieter nicht «Theater heute» liest.
Ich lebe in der Münchner Innenstadt, zehn Minuten zu Fuß zu den Kammerspielen, im Lehel …
TH … der teuersten Gegend, die man sich aussuchen kann im ohnehin völlig überteuerten München.
Bardutzky Deshalb hoffe ich auch, dass unser Vermieter einfach vergessen hat, dass wir da wohnen. Ich möchte jetzt nicht weiter ins Detail gehen, aber ich wohne in einer WG, die ich mir als freie Autorin tatsächlich leisten kann. Aber wir haben Angst, dass das eines Tages zu Ende gehen wird und schmieden schon Notfallpläne.
TH Mit der Frage wollten wir darauf hinaus, wie Sie die Themen Ihrer Stücke wählen. In «Fischer Fritz» geht es um eine polnische Pflegekraft, die einen älteren alleinstehenden Mann betreut; «Das Licht der Welt» handelt von einem aktivistischen Waldbesetzercamp; «Altbau in zentraler Lage» ist zumindest in einem Hauptstrang ein Mietwohnungsdrama – alles sehr aktuelle, aber auch etwas partikulare Themen. Wie kommen Sie zu Ihren Stoffen?
Bardutzky «Das Licht der Welt» war ein Auftrag des Heidelberger Theaters zum Thema Widerstand – themengebundene Aufträge fallen mir eher schwer. Ansonsten interessieren mich zu Beginn oft bestimmte Traditionen und Techniken des Theaters. Am Anfang von «Fischer Fritz» stand die Lust, etwas über die Kunst des Sprechens zu machen. Deshalb startete ich mit einem Zungenbrecher. Dann kam die Frage, wer könnte Fischer Fritz sein, wie würde sich eine Sprechbehinderung einfügen? So entstand langsam eine Geschichte. Es sollte auch ein Text werden, der für Schauspieler:innen die Hölle ist (lacht) – als sportliche Herausforderung. Auch «Altbau in zentraler Lage» war ein Stückauftrag des Schauspiels Leipzig, aber ohne Thema. Bei «Altbau» hat mich zuerst die Gattung Schaueroper gekickt, danach lagerten sich die gesellschaftspolitischen Themen an. Die Mehrsprachigkeit in meinen Stücken ergibt sich auch erst später. In «Fischer Fritz» etwa die Konstellation zwischen der nur polnisch sprechenden Pflegerin und dem alten Mann; in «Altbau» brauchte ich nach den musizierenden Gespenstern eine Mieterin, die eben nicht über Musik terrorisierbar ist, weil sie nicht hören kann. Also eine taube Nachbarin. Damit tauchte die Frage auf, was das alles nach sich zieht: Man schreibt für hörendes und taubes Publikum, für hörende und taube Spieler:innen, aber welche Konsequenzen hat das? Wie funktioniert dann Verständigung?
TH Haben Sie deshalb die taube Schauspielerin Athena Lange hinzugezogen?
Bardutzky Ich konnte die Szenen mit den beiden Nachbarinnen, eine hörend, eine taub, nicht alleine schreiben. Weil ich zu wenig über die Sprache und die Lebenswirklichkeit tauber Menschen weiß. Dann habe ich Athena Lange kennengelernt, die Figur mit ihr entwickelt, und wir beide haben die Szenen improvisiert. Sie hat die taube Nachbarin gespielt, ich die hörende. Athena hat gebärdet, ich habe versucht, das aufzuschreiben, sie hat dann gegengelesen usw. Dieser Schreibprozess war eine sehr beglückende Zusammenarbeit.
TH Sie beherrschen die Gebärdensprache?
Bardutzky Nein, aber ich habe Kurse gemacht und mein Gebärdensprachvermögen hat sich langsam entwickelt, wie bei der Figur der hörenden Nachbarin, Zoey. Beide Nachbarinnen kommunizieren im Stück erst mehr oder weniger pantomimisch und schreibend, dann lernt Zoey allmählich gebärden.
TH Nur nochmal kurz zusammengefasst: Im Stück wird ein Altbau zwecks Luxus-Kern -sanierung entmietet. Zwei Bewohnerinnen wollen nicht ausziehen: die hörende Zoey und ihre Nachbarin, die taube Trisha. Die Entmietung betreiben sowohl die Immobilienfirma als auch ein paar heftig musizierende Gespenster aus der Entstehungszeit des Hauses, 1880. Damals waren die Mietverhältnisse noch wesentlich schlimmer als heute: Häu -fige Umzüge, Überbelegung und unwürdige Wohnverhältnisse waren die Regel. Zoey vertreibt die Gespenstermusik mit lautem Techno, was ihre Nachbarin zwar nicht hört, aber sehr wohl spürt, weil die Wände vibrieren. Alles nimmt einen schauerlichen Ausgang: Die Wohnungen werden zwangsgeräumt, Zoey landet auf der Straße und kommt bei einem Unfall ums Leben. Die Gespenster sind auch im Text ziemlich hinterhältig: Sie schleichen sich nämlich über die Regieanweisungen ins Stück. Was für schauerliche Musik machen sie eigentlich, um die Mieterinnen zu quälen?
Bardutzky Die Musik wird im Stück nur beschrieben, ob und was man hört, muss die Regie entscheiden – aber ich glaube, die Gespenster sind Wagnerianer. Sie waren die ersten Bewohner des Hauses, wurden vertrieben und fühlen sich im Recht, dort zu sein und immer weiter zu wohnen. Ich habe viel von Richard Wagners Schriften gelesen, und mich da formal sehr für die Figuren bedient: Diese Geschwätzigkeit, diese Egozentrik, das Ausgrenzende und Besserwisserische in Wagners Schreibe kennzeichnet auch meine Gespenster. Wenn man Wagners Schriften heute liest, findet man viel rechtes Denken, das damals gerade salonfähig wurde und uns heute wieder mächtig bedrängt. In diesem Geist sind die Geister gestaltet.
TH So greifen wildgewordene Immobilienmärkte und deutschtümelndes Denken im Stück ineinander.
Bardutzky Das ist die große Horror-Kontinuität. Diese alten Gespenster sehen nicht, dass die heutigen Mieter:innen ähnlich arm sind wie sie einst und dass sie mit ihnen zusammenhalten müssten. Stattdessen erklären sie sie zum Feind in einem völlig verdrehten Gut/Böse-Schema, das mit Ausgrenzung operiert. Dieses komplett Irrationale und gleichzeitig Hyperemotionale kann man bei Wagner gut nachlesen.
TH Die Gespenster kommentieren und beschreiben das Geschehen in regieanweisungsartigen Texten, über die aber jede Inszenierung frei entscheiden kann. Sie schreiben vorneweg: «Alles, was gespielt oder gemimt werden kann, braucht nicht gesprochen werden.»
Bardutzky Die Gespenstertexte sind eine Mischung aus Regieanweisung und Erzähltext, weil die Gespenster das Gefühl haben, dass sie hier die Regie übernehmen. Sie sind überall und können deshalb auch genau beschreiben, was passiert. Ob und wie man sie auf die Bühne bringt – da gibt es viele Möglichkeiten. Die Sache ist nur die: Wenn man auch für taubes Publikum inszenieren will, kann nicht so viel gesprochen werden. Deshalb auch diese Vorbemerkung. Für mich war wichtig, eine Atmosphäre und Bildwelten zu kreieren, die auf der Bühne umsetzbar sind. Deshalb bin ich auch davon ausgegangen, dass man am Ende von den Gespenstertexten in einer Aufführung relativ wenig hören wird. Aber ich hoffte, dass sie die Regie inspirieren.
TH In der Leipziger Uraufführung sind es drei Gespenster, die eindrucksvoll halbvermodert durch die Gänge streunen, und die Gespenstertexte kommen nur in Bruchteilen vor, was auch ein bisschen schade ist. Das viktorianische Setting des Stücks kam aber nicht von Richard Wagner, der ja mehr teutonenmythisch geforscht hat.
Bardutzky Es gibt eine Groschenromanserie «Geisterjäger John Sinclair», die man in jeder gutsortierten Bahnhofsbuchhandlung bekommt. Ich habe relativ früh, als ich mit diesem Stück begann, einen Mann beobachtet, der sich einen Stapel dieser Hefte gekauft hat; da habe ich auch eins gekauft. Beim Lesen dachte ich, das ist der krasseste Schrott, den ich je gelesen habe. Aber warum habe ich das gerade in einer Stunde verschlungen, ohne dass ich aufhören konnte? Ich war fasziniert von der Wildheit der Dramaturgie und der großen Nähe zu den Figuren. Ganz vieles, das ich mir im «Altbau» erlaube, habe ich da abgeschaut. Menschen, die man gerade liebgewonnen hat, sterben unvermittelt. Bei John Sinclair taucht auch manchmal auf Seite 60 plötzlich ein Ich-Erzähler auf und man denkt, wo kommt jetzt bitte der her? Oder verhältnismäßig spät erscheint plötzlich ein Geisterjäger. Dieser John Sinclair hat auch so zwei, drei coole Kolleginnen, die plötzlich deus-ex-machinamäßig auftauchen und die Welt wieder in Ordnung bringen. Für die Stückkonstruktion fand ich das sehr inspirierend. Außerdem habe ich viel an der Sprache rumprobiert: 19. Jahrhundert, das sind ausufernde Regie -anweisungen, Menschen in Möbeln. Zuerst war es eine Ibsen-Sprache, dann bin ich über die theoretischen Wagner-Schriften gestolpert. Und als ich das gelesen habe, war ich sicher: Das ist ein heute immer noch herumspukendes Gespenst! Das ganze geistige Bäh, das er transportiert! Wagner schreibt zwar immer noch anders als meine Gespenster, nämlich noch geschwätziger, noch ausufernder, aber der Gestus kommt von dort. Apropos Sprache: 1880, das Jahr aus dem mein Altbau stammt, war das Jahr, in dem Unterricht in Gebärdensprache verboten wurde. Während Wagner, fast zeitgleich, in seinem Aufsatz «Was ist deutsch?» die deutsche (Laut-)Sprache als Basis allen Deutschseins ausmachte. Wenn Wagner über Musik schreibt, wird er übrigens nur selten konkret, aber er benutzt gerne Wasser-Metaphern. Da habe ich einige übernommen.
TH Am Ende des Stücks, bevor der Altbau abgerissen wird, geht tatsächlich eine Geisterjägerin hinein, die von den Gespenstern ziemlich in die Mangel genommen wird und beinahe stirbt. Und während sie bewusstlos oder im Traum versinkt, hat sie eine Art apokalyptischen Flow.
Bardutzky Das ist auch Wagner. Er schreibt Hunderte von Seiten, dass es mit Deutschland bergab geht, und alles, was ich da zitiere, die ausgepinselte Apokalypse, die brennenden Landstriche, die versunkenen Städte – all das blüht den Deutschen laut Wagner, wenn sie nicht als Nation erstarken und seine Musik hören. Und genau dahinein werfe ich die Geisterjägerin! Aber es gibt im Text kaum direkte Wagner-Zitate, nur ein Wesendonck-Lied, und manchmal werde ich ein bisschen stabreimig.
TH «Düster ihr Drängen, dunkel ihr Trieb!» Aber warum dann keine Wagner-Musik?
Bardutzky Ich habe schon überlegt, Wagners Musik im Stück zu benennen, aber am Ende war es mir wichtiger, ein Stück zu schreiben, das auch für taubes Publikum zugänglich ist. Also lieber ein inklusives Theater machen, das diese rechte Szene total hassen wird. Ich wollte, dass wir auf der Bühne erlebbar machen, wie eine Verständigung zwischen Menschen möglich ist, allen Barrieren zum Trotz. Das war mir letztlich wichtiger als eine theoretische Debatte über rechtes Denken und über Wagners Ästhetik.
TH Wohin sind die Gespenster denn nach dem Abriss geflüchtet?
Bardutzky Sie überstehen es nicht, wenn ein Haus abbrennt, wird ja gesagt. Ich glaube, sie sind einfach verbrannt. Zoey, die vom Auto überfahren wurde, ist jetzt das Gespenst. Aber ein sympathischeres! Eins, das Techno spielt!
Das Gespräch führten Eva Behrendt und Franz Wille.
RAPHAELA BARDUTZKY, geb. 1983, lebt in München. Sie studierte Schauspieldramaturgie, Philosophie und Literaturwissenschaft an der Bayerischen Theaterakademie August Everding und der LMU München. Ihr Stück «Wüstling» wurde 2017 mit dem Münchner Literaturstipendium ausgezeichnet, «Fischer Fritz» wurde bei den Autor:innentheatertagen 2022 des Deutschen Theaters Berlin uraufgeführt, «Das Licht der Welt» und «Altbau in zentraler Lage» in Heidelberg und Leipzig uraufgeführt.

Theater heute Februar 2025
Rubrik: Das Stück, Seite 50
von Eva Behrendt und Franz Wille
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