Der Mikrokosmos des Elends

Milo Rau dreht in der europäischen Kulturhauptstadt Matera ein neues Matthäus-Evangelium

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«Azione», ruft Milo Rau. Blutend wird Jesus die engen Gassen hinaufgetrieben. Hinter ihm, in der kühlen Sonne des frühen Oktobertages, weiten sich wie gestapelte Bausteine die Höhlen der Sassi im süditalienischen Matera, seit 1993 UNESCO-Weltkulturerbe und 2019 europäische Kulturhauptstadt. In Matera wurden schon viele Jesus-Filme gedreht, am bekanntesten das «Matthäus-Evangelium» von Pasolini und Mel Gibsons «Passion Christi» von 2004. Jesus trägt auch bei Milo Rau ein weißes Hemd, wie 1964 im legendären Pasolini-Film.

Auch sonst passt mit Dornenkrone, Holzkreuz, römischen Gewändern und Ledersandalen alles in die traditionelle Ikonografie. Nur eins nicht: Jesus ist schwarz. 

Dumpf grölen die römischen Soldaten und Bauern hinter ihm her, imitieren rassistische Affengeräusche, schlagen ihn mit Lederpeitschen. Hinter den Massen schreiten schluchzend drei Frauen. Während Maria gespielt wird von Maia Morgenstern, die auch bei Mel Gibson die Maria war und schon in Raus «Empire» mitwirkte, stammt Maria Magdalena aus Nigeria und ist ehemalige Prostituierte, nennt sich Osaretin und arbei­tet in einer NGO, die Frauen aus sexueller Ausbeutung holt. Ihr richtiger Name darf nicht geschrieben ...

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Theater heute Dezember 2019
Rubrik: International, Seite 36
von Dorothea Marcus

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