Der Melankomiker
Man wusste nie, wer auftreten würde, auch wenn man die Stücke kannte: der sich selbst gefährdende, doch gut trainierte Seiltänzer; der gewiefte gierige Wolf mit liebenswürdig aasigem Dauergrinsen; der spitzenschuhgestählte Elefant im Porzellanladen; der hypermännliche Naive; der versponnen erzählverliebte und zugleich klug analytische Anekdotiker; der ausgebuffte Charmeur als serieller Eroberer, also Monaco Franzes Alter Ego aus der Steiermark ...
Oder man könnte auch sagen: Auftritt der Ewige Beste Bruder; der dauerverschuldete Gutsbesitzer; der besorgte und liberale muslimische Vater; der macht- und geldgierige Tycoon; der skrupulöse k.u.k. Obermedizinalrat oder der korrupte Kommerzialrat. Also die gesamte Typen-Palette von Tschechow bis Schnitzler, von Schiller und Goethe bis Ayad Akhtar – und dazu auch ein bisschen Boulevard mit Yasmina Reza. Peter Simonischek war ein genialischer Grenzgänger, ein routiniertes Cha -mäleon und doch immer ganz bei sich selbst. Als Schauspieler. Und als Mensch.
Nochmal von vorn. Ein Mannsbild. Ein Bild von einem Mann. Und Jedermann. Seitdem er von 2002 bis 2009 genau hundert Mal, so jedenfalls seine Zählung, und so oft wie niemand vor und nach ihm den «Jedermann« auf dem Salzburger Domplatz gespielt hatte, war er, zumindest in Österreich, überaus weltberühmt. Und seit er für Toni Erdmann in Maren Ades gleichnamigem Film, der eine Oscarnominierung bekam, den Europäischen Filmpreis als Bester Darsteller erhielt, war er, mit gerade mal siebzig, auch im internationalen Kino durchaus weltberühmt. «Er hat es dem Publikum nicht schwer gemacht, ihn zu mögen«, steht im Nachruf der «Neuen Zürcher Zeitung». Peter Simonischek hat es aber sich selbst nie leicht gemacht, von seinem Publikum gemocht zu werden, obwohl er es sich ganz leicht hätte machen können. Denn seine schauspielerische Natur und seine naturgegebene Statur erlaubten es ihm, wenn er wollte, einfach ein purer Überrumpler zu sein. Er hingegen wollte ein Figuren-Finder und -Hersteller, ein nachdenklicher Verführer sein, wenn es denn so etwas überhaupt gibt.
Wenn es das gibt, dann konnte er es. Alles aus einer beseelten und durchdachten Verstellerkunst heraus erarbeitet.
Dabei war es ihm nicht «in die Wiege gelegt», Schauspieler zu werden. Der 1946 in Graz geborene Simonischek sollte, sein Vater war Dentist, auf dessen ausdrücklichen Wunsch hin Zahnarzt werden; er begann, folgsamer katholischer Internatsschüler, der er gewesen war, zunächst eine Ausbildung zum Zahntechniker, neben dem offiziellen Architekturstudium. Heimlich aber nahm er Schauspielunterricht, denn in einer «Hamlet»-Aufführung, in die ihn sein Vater mitnahm, der sicher nicht wusste, was er tat, infizierte ihn der Titeldarsteller mit dem höchst ansteckenden Mimen-Virus, ein gewisser Helmut Lohner.
Nach der Schauspielschule folgte Simonischek einem altbewährten Rezept, wie er im «Theater heute»-Gespräch erzählte, das wir vor vier Jahren führten, als er «50 Jahre als Ensemblespieler» feierte: «Von der Schauspielschule erst mal in die Provinz gehen und ‹groß› spielen. Oder an ein großes Haus und ‹klein› spielen. Die bessere Variante schien damals die erste zu sein. Und so hab ich es dann auch gehalten. Zwei Jahre St. Gallen, zwei Jahre Bern, zwei Jahre Darmstadt und dann drei in Düsseldorf, die beiden letzten Stationen bei Günter Beelitz.«
Das erste Mal sah ich Peter Simonischek 1978 leibhaftig als Ferdinand in Schillers «Kabale und Liebe». Roland Schäfers Düsseldorfer Inszenierung war zum Berliner Theatertreffen eingeladen, und ich hatte damals, 23-jähriger Theaterwissenschaftsstudent, brav für Karten angestanden, was die Zuschau-Erwartung noch steigerte. Es war, so meine Erinnerung, ein echtes Schauspielerfest, der Regisseur war ein Kollege, entstammte nicht der Assistentenwelt oder der Dramaturgieetage, wie damals eher üblich. Gleichwohl war das Stück sozial klug geerdet, ein im Wortsinne sehr bürgerliches Trauerspiel.
«Selten sah man ein Schillersches Liebespaar wie die unerlöst und leicht bäuerlich sich gebende, zarte und verzweifelte Charlotte Schwab, eine Gestalt, als sei sie geradewegs aus dem Marbach Schillers hergekommen. Und Peter Simonischek: verspielt und edel, doch auch grobkörnig und ungestüm. Die beiden werfen sich erst Äpfel zu, später spielen sie mit einer Zitrone Fangball – Vorgeschmack auf die vergiftete Limonade. Es sind junge, nach Glück sich sehnende Gemüter, die umso herzzerreißender in ihr Unglück gehen.» (Hans Schwab-Felisch in der «FAZ»)
Schäfer, Schwab und Simonischek, damals auch im Leben ein Paar, waren kurz darauf im Ensemble der theaterweltbewegenden Berliner Schaubühne engagiert.
In Peter Steins «Drei Schwestern»-Inszenierung von 1984 spielte Simonischek Andrej, den Bruder der drei Schwestern, einen liebenswerten Kindskopfmann, der von seiner Frau nach allen Regeln tschechowscher Strindberg-Kunst geschurigelt wird. Ein Loser. Den gab Simonischek schon auch, doch jemanden, der inwendig wusste, dass in ihm ein unerlöster Liebhaber lauerte – der Frauen, des Lebens, ja sogar eines gewissen beruflichen Erfolgs. Dass er sich all dem versagte, dass er in allem versagte, machte ihn tragisch und komisch zugleich und zu einem stillen Zentrum der Stanislawski-folgsamen Inszenierung.
Den Gajew in Steins «Kirschgarten» (1989 an der Schaubühne und neu inszeniert 1995 bei den Salzburger Festspielen) grundierte Peter Simonischek schließlich mit austriakischer Melancholie, als wolle er damit das untergehende Kakanien und das verrinnende Zarenreich im jeweils finalen Stadium dar -stellerisch miteinander vermählen. Die Schaubühnenzeit war Simonischeks erste Glanzperiode als Protagonist. Oft aber war er nur (was heißt nur!) «the best supporting actor», wie es sich für einen eingeschworenen Ensemblespieler gehört.
Neben Stein arbeitete Simonischek an der Schaubühne mit Klaus Michael Grüber und Luc Bondy. Mit ihnen hatte er großen Erfolg als tiefgründelnder Melankomiker. In Eugène Labiches «Die Affaire Rue de Lourcines» (Regie Grüber, 1988), einer anarchisch-verspielten Petitesse um das Katerfrühstück zweier Saufkumpane nach einem Klassentreffen, bei dem sie beide ein alkoholbedingter nächtlicher Blackout ergreift, in dem alles passiert sein könnte, von Mord und Totschlag bis zur Unzucht. Peter Simonischek spielte – neben Udo Samel – einen ehemaligen Einserschüler, der nun (nur!) Koch ist, mit der Inbrunst eines Zukurzgekommenen, der einmal noch über die Stränge schlagen wollte und nun heillos Angst hat. Tragikokomödie.
Und in Botho Strauß’ «Die Zeit und das Zimmer» (Regie Bondy, 1989) saßen die beiden nebeneinander in Richard Peduzzis Bühnenbild, einem Terrarium mit echten Menschen, wie Gilbert und George als holzschnittige Figuren aus einem Wetterhäuschen, wobei Peter Simonischek den Julius als Inbild des täppisch-grazilen Kleistischen Bären gab neben Samel, der den Olaf als überaus verletzlichen Liebenden ausstaffierte. Stan und Ollie, Pat und Patachon.
In Yasmina Rezas Erfolgsstück «Kunst» (Regie Felix Prader, 1995) gesellte sich noch Gerd Wameling hinzu als eilfertiger und eitler Dritter: Serge. Die Drei von der Kunststelle zelebrieren ein Drama um ewige Freundschaft und ebenso heftige Feindschaft, ausgelöst vom erbitterten Streit über die ästhetische Qualität eines monochrom weißen Bildes, das Serge für viel Geld erworben hat und dessen Wert Marc anzweifelt. Sie spielen gleichermaßer mit delikatem Raffinement und ungebremster Rampensaulust, wobei Simonischek im quirligen Wirbel der beiden kleinen Kraftwerker den Ruhepol, einen Leuchtturm der vermittelnden Vernunft, geben will – und hochnotkomisch im kiebigen Wörter-Strudel, den beide erzeugen, unterzugehen droht.
Fast 500 Mal trat das Trio infernale damit auf, in Berlin an der Schaubühne und später am Renaissancetheater, am Wiener Burgtheater und auf Gastspielen allüberall. Ein Hit.
Mit Andrea Breth, von 1992 bis 1997 Künstlerische Leiterin der Berliner Schaubühne, arbeitete Simonischek viel zusammen, obwohl er mit ihrer Direktionsarbeit vor Ort Schwierigkeiten hatte, auch später nach seinem Wechsel 1999 an die Burg, wo sie ebenfalls inszenierte. Mit ihr erfand er Figuren, die eher dem Temperament der Regisseurin gemäß waren – von Schnitzler über Kleist bis Horváth.
In «Der Einsame Weg» sah Franz Wille «die hohe Schule der schwarzen Komödie. Peter Simonischek als Professor Wegrath erscheint als gehrockbewehrter Labiche-Bürger mit steiler Glatze, tranige Bonhomie auf den Lippen. Seine sympathischen Knopfaugen heften sich voll feuchten Mitgefühls an Libgart Schwarz, die der Gattin Gabriele mit kalkulierter Skurrilität alles allzu betuliche Leiden erspart.» (TH 11/91) Und Gerhard Stadelmaier beschrieb Simonischek «als ein Traumvernünftler von einem Kurfürsten im ‹Prinzen von Homburg› und als Schuldtraum-Bahnhofsvorsteher im ‹Jüngsten Tag›» (so zum 60. Geburtstag von Breth in der «FAZ» 2012).
Doch nicht die Burg-Karriere machte Simonischek zum Schauspieler-König von Österreich, sondern, wen wundert’s, der «Jedermann». Jürgen Flimm ließ mit Beginn seiner Salzburger Festspielzeit den Publikumsrenner 2002 renovieren, Christian Stückl war der neue Regisseur, er hatte schon die Oberammergauer Passionsspiele umgekrempelt.
Im Kern jedoch, schrieb damals Michael Skasa im Oktoberheft von «Theater heute», gehe es immer und weiterhin um die Frage: «Wie kommt der Jedermann selber daher, und wie schaut seine Buhlschaft aus? Ganz prima! Könnt nicht besser sein. Der Peter Simonischek, über die Brust wie ein Löw, das silbergesträhnte Haar zum Zopf gerafft, ist ein richtiger Kerl, ein Renaissance-Kaufmann, der nur leider in packpapiernen Versen reden und gelegentlich taumeln und endlich wanken muss. Und seine Buhle ist mit Veronika Ferres drall besetzt, im altrosa Taftkleid voller Rüschen, Schlitze und Schleppen, schulterfrei und ihrer Brüste zween prall ins weitherzige Mieder gerundet.» So spielte er das, der Peter Simonischek, bis 2009 und hundert Mal. Und dann kam nach dem «Jedermann» der «Toni Erdmann», produziert 2014, Kinostart nach dem Festival in Cannes 2016 und dort hochgelobt.
Zuerst glaubte ich eine halbe Stunde lang, im falschen Film zu sitzen: Da irrte ein pensionierter Musiklehrer durch eine biedere Einfamilienhauswelt, grau in grau. Doch als er seine Mission begreift, dass er seine Tochter (Sandra Hüller) aus den Fängen einer internationalen Businesskarriere, die sie seiner Meinung nach auffrisst, glaubt retten zu müssen, als er sich mit Perücke und erkennbar falschem, überdimensionalem Gebiss bewaffnet in den Kampf begibt, in die Welt der Erfolg-Reichen und Schönen, da erweckt Peter Simonischek ein control-freakiges Alptraumgespenst von Vater zum Leben, oszillierend zwischen Fürsorge, Anmaßung und schlichter Liebeswilligkeit.
Dazu nutzte er seine gesamte schauspielerische Klaviatur zwischen Zartheit und Zagheit, Brachialität und Tragikomik, die er perfekt und unangestrengt beherrschte nach all den Jahrzehnten der vielfältigsten Figurenerfindungen. Das Peinliche wurde liebenswert und die sorgende Liebespein des Vaters ein großes, wenn auch mitunter lächerliches Geschenk an die Tochter.
Sehr unterschiedliche Väter spielte Simonischek danach noch am Burgtheater. Den aus Pakistan stammenden, in den USA lebenden Taxifahrer Afzal in Ayad Akhtars «The Who and the What» (Regie Felix Prader, 2018), ein Zeitstück, das eindrucksvoll kulturelle Zerrissenheit dokumentiert: Der eigentlich liberale Vater, zum Kleinunternehmer aufgestiegen, liebt seine Töchter abgöttisch, stößt aber an seine Grenzen, als eine der beiden als Schriftstellerin – nach seinem Verständnis – häretische Meinungen zum Islam proklamiert. Simonischek machte diese Zerrissenheit mit vulkanischer Ruhe als individuelles und kulturelles Schicksal körperlich und mimisch erlebbar.
Er spielte den Tora-Lehrer Mendel Singer in der Adaption von Josef Roths Roman «Hiob» (Regie Christian Stückl, 2019) als großen Verlierer und kräftigen Wundenmann, ausgestattet mit der tragischen Kraft einer von zwei Seiten verglühenden Kerze. Und schließlich, seine letzte Rolle, gab Simonischek den Fabrikanten Matthias in Simon Stones «Komplizen» (eine durch den Regisseur erstellte Verquickung von Gorkis «Kinder der Sonne» und «Feinde», 2021). Wie Blake Carrington in «Dynasty», so residiert Simonischek als selbstgewisse Spinne im von ihm gewirkten Netz seiner Sippe, will alles kontrollieren – und doch geht alles unter in den Wirren einer Revolution. «Es ist alles aus. Und wir sind schuld», das sind die letzten Worte dieses Big-Business-Daddys. Und auch die des Schauspielers auf der Bühne.
Nach der «Komplizen»-Premiere sind noch Filme mit Peter Simoni -schek herausgekommen, zuletzt «Der vermessene Mensch» (Regie Lars Kraume, 2023). Es ist also mit seinem Tod nicht alles aus, man kann Simonischek weiter sehen – und hören. Und er hat eine Theater-Dynastie mitbegründet: Max Simonischek (aus der Ehe mit Charlotte Schwab), Benedikt und Kaspar Simonischek (aus der zweiten Ehe mit Brigitte Karner) arbeiten als Schauspieler oder Regisseur.
Zur Einstimmung auf den Nachruf für diesen Ausnahmekünstler, der in den letzten Jahren auch ein Freund wurde, hab ich mir noch einmal Leon -hard Koppelmanns Hörspiel-Fassung von Thomas Bernhards «Theatermacher» (ORF 2022) angehört. Peter Simonischek spielt/spricht, naturgemäß, Bruscon. Brigitte Karner ist nicht nur seine Frau, sondern auch der grantige Wirt vom «Schwarzen Hirschen» in Utzbach. Und beider Sohn Kaspar gibt den Sohn im Stück. Theater, ein Familienunternehmen. Sehr komisch. Sehr anrührend.
«Das Rad der Geschichte» (so der Titel von Bruscons Tournee-Dauerbrenner) hat nun für Peter Simonischek ein Ende gefunden. Denn Jedermann ist gestorben.
Theater heute Juli 2023
Rubrik: Nachruf, Seite 50
von Michael Merschmeier
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