Das Ungeheuerliche neu durchdenken
Die unangenehme Frage zuerst: Ist das emotionale Erpressung? Und muss ich mir das geben? Da sitzen auf der Bühne im Theater Essen am Jahrestag des russischen Überfalls auf die Ukraine allen Ernstes drei echte Ukrainerinnen mit traurigem Blick am Exil-Esstisch und schöpfen echte Suppe in ihre echten Teller. Später stehen sie dann in fröhlichen Spielszenen am Rand (der deutschen Gesellschaft, schon klar). Und zu guter Letzt berichtet die Jüngste mit leiser Stimme und sweetem Akzent von ihrer Flucht, der Angst und dem Nie-ganz-Ankommen.
Alles klar, die drei bürgen für Authentizität und erhöhen den Druck, die Uraufführung von Natalka Vorozh -byts «Non-Existent» aus moralischen Gründen gut zu finden. Die Antwort auf Frage eins lautet also Ja. Die Antwort auf Frage zwei lautet allerdings ebenfalls Ja.
Warum? Zum einen, weil man sonst schlicht eine verblüffende, respektlose, klug ambivalente Komödie mitten aus dem Ukrainekrieg verpassen würde. Zum anderen, weil Regisseur Andreas Merz-Raykov durch die Arbeit mit ukrainischen Statistinnen einen durchaus angreifbaren, aber angenehm offenen Umgang mit dem ungelösten Repräsentationsproblem versucht. Schließlich spielt hier ein deutsches Ensemble auf Deutsch (mit ukrainischen Übertiteln) ein Stück über Ukrainer:innen, das die Grenzen des gefühlt Sagbaren immer wieder überschreitet. Mit dabei: ein für den Krieg viel zu ängst -licher Fake-Soldat, Waffen-Gott Olaf Scholz, ein traumatisierter Kater und drei unverbrämt menschliche, höchst fehleranfällige Hauptfiguren, gespielt von Ines Krug, Sabine Osthoff und Beritan Balcı.
Hart am Rand des Abgrunds
Diese drei Schauspielerinnen lösen nach wenigen Minuten die ukrainischen Statistinnen Oksana Zhuk, Mariia Apostolova und Lidiia Hontariuk am Esstisch ab, löffeln deren Kohlsuppe aus, geraten umgehend in Streit und sprengen mit ihrer Schlagfertigkeit bald jedes «Opfer»-Klischee, das in den Köpfen wohlmeinender und -tätiger Deutscher so herumspuken mag.
Das tut gut, keine Frage. Gleichzeitig ist aber eben Krieg, gleichzeitig können wirklich Angehörige und Freund:innen der Ukrainer:innen sterben, die jetzt hier im Publikum sitzen. Dass Zhuk, Apostolova und Hontariuk Teil des Ensembles sind, wenn auch bewusst schlecht inte -griert, dass sie gemeinsam mit den Spieler:innen launige ukrainische Songs singen und ihre eigene Geschichte erzählen, ist ein klares Zeichen des Respekts – bei allem offensichtlich notwendigen comic relief.
Ihre «Leichten Szenen vor dem Hintergrund des Krieges», so der Untertitel, hat die international renommierte ukrainische Dramatikerin und Drehbuchautorin Natalka Vorozhbyt hart am Rande des Abgrunds platziert. Sie schreibt seit Jahren über den Krieg Russlands gegen die Ukraine, oft dokumentarisch. 2020 hat sie zusammen mit Kolleg:innen das «Teatr Dramaturhiw», ein Autor:innentheater in Kiew gegründet, es wurde im Frühjahr 2022 eröffnet und ist regelmäßig ausverkauft (siehe auch das Porträt in TH 10/23).
Wie Vorozhbyt selbst, müssen auch ihre Protagonist:innen in «Non-Existent» jederzeit mit schrecklichen Nachrichten von Zuhause oder der Front rechnen. Zugleich kämpft jede von ihnen mit eigenen Dämonen, die schön schräg metaphorisch die Widersprüche und Unerträglichkeiten der Gesamtsituation spiegeln.
Die Großmutter Marija, um die 70, versucht erste Anzeichen von Demenz zu überspielen, verknallt sich wider Willen in den rothaarigen Nachbarn, streitet sich mit ihrem verstorbenen, deswegen aber nicht weniger sexistischen Ehemann und läuft im Dunkeln regelmäßig mit dem Kopf gegen die Wand, weil die Tür zu Hause doch links war, nicht rechts. Beeindruckend ist, wie Ines Krug hier mit minimaler Gestik und Mimik alles zugleich spielt, damenhafte Würde und Teenie-Gefühle, Lust an der Provokation und Panik vor dem, was da kommen könnte.
Orysja, Marijas Tochter, um die 40, versucht derweil in sinnfreiem Aktionismus, aus der Ferne ihre Wohnung in Kiew zu renovieren. Und während ihr Mann Walik in der Ukraine ausharren muss, lässt sie sich auf einen planlosen Skype-Flirt mit ihrem Ex Schenja ein – vielleicht, um sich nicht länger zu fühlen, «als wäre mein Ich auf Pause gestellt».
Tochter Daryna, 15 Jahre alt und ziemlich einsam in der neuen Schule, fantasiert sich, zu flackerndem Neonlicht ins Mikrofon flüsternd, in heftige Kriegsszenen: «Ja, Mann, die ganze Einheit ist tot ... Ich hab überlebt, und Kater, aber er ist verletzt. Uns gehen die Scheißschmerzmittel aus. Wir müssen hier weg, aber wir können nicht raus, die feuern. Gebt uns Deckungsfeuer. Hörst du mich, Bajda?! Wir brauchen Deckungsfeuer!»
Tagträume und ein Bluff
Diese Episoden von der Front sind in Merz-Raykovs Inszenierung erst nach und nach als Tagträume zu erkennen. Sie bleiben die einzigen Kriegs- und Folterszenen in «Non-Existent». Es mögen Fantasien sein, sie gehen in ihrer Härte aber dennoch nahe.
Eigentlich wäre natürlich noch Darynas Vater Walik im Krieg. Wenige Minuten nach Beginn, als sich die Inszenierung mit ihren Humor noch betont zurückhält, ruft er per Skype an – in Uniform, vor einer blau-gelben Flagge. Er hält seiner Tochter eine Moralpredigt, schön hölzern gespielt von Philipp Noak: Sie müsse durchhalten, für ihn, auch wenn es in der Schule noch so ätzend sei, blablabla. «Papa, wenn du nicht kämpfen würdest, würde mir von deinen Tiraden schlecht werden», ächzt Daryna, eine Aussage, der man sich zu 100 Prozent anschließen möchte. «Aber ich kämpfe, also hör mir gut zu», kontert Walik lahm. Kaum ist Daryna aus dem Zimmer, reißt er sich genervt die Uniform vom Leib, die Fahne fällt herunter und Walik sitzt in Boxershorts und T-Shirt in der Kiewer Wohnung der Familie, versteckt, um nicht eingezogen zu werden.
Dieser zentrale Bluff, dass Walik schlicht nicht an der Front kämpft, ist notwendig, damit der Abend als tragikomisches Boulevardstück funktionieren kann. So kann er auf anderen Ebenen als der der unmittelbaren Bedrohung vom Krieg erzählen, vom Trauma, vom Exil und auch vom Geworfensein in einen irren Strudel von Meinungen, hier im Land der 84 Millionen Verteidigungsminister:innen. Stellvertretend für diese klingelt ein Nachbar an der Tür. Er bringt Katzengras für den Kater und labert umgehend los, obwohl ihm niemand geöffnet hat. Besorgt sei er selbst, Tschechow heiße sein Kater, und man dürfe doch wirklich keine Waffen liefern, weil, «wenn der Krieg nicht aufhört, dann geht der ja weiter».
Katerfragen
Regisseur Merz-Raykov und Dramaturgin Margrit Sengebusch drehen den Humor der Autorin, wo nötig, noch einen Zacken weiter, übersetzen ihn in schnelle Szenen, die pragmatisch, ohne aufgesetzten Komödien-Habitus, durchgespielt werden. Und mitten im Lachen wird es möglich, den Krieg in seiner Ungeheuerlichkeit und mit all seinen Folgen neu zu durchdenken. Dass die Welt, wie sie war, nur noch in der Erinnerung existiert, dass da in Russland ein Diktator freidreht, dass survivor guilt das neue Normal ist, dass die verdrängte Angst vor einem Atomkrieg sich nicht gänzlich wegrationalisieren lässt. Letzterer dräut dann nämlich doch noch, ganz am Ende von «Non-existent», als bittere Pointe, die notgedrungen unkommentiert bliebe, wäre da nicht der Kater.
Ja, richtig gelesen, der Kater. Auch so ein Moment, in dem man im Erdboden versinken möchte: Wenn Jan Pröhl, ernsthaft, in schwarzem Pelzmantel, mit Katzenschwanz und Ohren-Mütze auf die Bühne latscht. Bis man merkt, dass dieser prollig-nölige Kater, der seine Schnauze beim Sprechen in alle Richtungen verzieht, in klugscheißerischer Katzenlogik Dinge sagen kann, die aus Menschenmund zu kitschig, zu ehrlich, zu real, zu widersprüchlich wären. Dass er geschrien habe, zum Beispiel, «40 Stunden bis zur Grenze und 10 Stunden danach», ohne zu wissen, warum. Bis er kapiert habe, dass er einfach nicht in einen Käfig gesteckt und irgendwo hin gebracht werden wollte, «mir macht die Ungewissheit Angst, verstehen Sie?».
Als Kater darf er sogar, ganz am irgendwie märchenhaft apokalyptischen Ende des Abends, die berechtigte Frage stellen, «ob die Menschheit denn Zukunft» habe. Und er darf, entgegen jeder Logik, darauf bestehen, dass «jedes Ende, auch das Ende der Welt, (…) voller Hoffnung sein» müsse.
NÄCHSTE VORSTELLUNGEN: Non-existent, Theater Essen: 7., 25. April www.theater-essen.de

Theater heute April 2024
Rubrik: Aufführungen, Seite 24
von Cornelia Fiedler
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