Am windigen Puls der Realität

Schnüffeln im Laub der Gegenwart: Laudatio auf Wolfram Lotz zur Verleihung des Jürgen Bansemer & Ute Nyssen Dramatiker Preises 2022

Theater heute - Logo

Ich habe eine schlechte Nachricht für Sie. Diese Laudatio ist 912 Seiten lang. Aber nur der erste Teil. Ich brauche so viel Platz zum Erklären, warum in Wolfram Lotz’ letztem Theaterstück «Die Politiker» plötzlich kein Igel mehr vorkommt. Aus 7000 Wörtern Text besteht dieses Drama, und kein einziges davon ist «Igel». Das gab es noch nie.

Von den anderen Hauptdarstellern seiner Sprache, dem «Wind» und dem «Tod», kommt ersterer in den «Politikern» immerhin 14 Mal vor, aber auch der Tod hat nur drei Auftritte, und zwar ziemlich am Schluss, wo er hingehört, zu Adolf Hitler und Netflix. Ist dies ein Reifezeugnis? Den treuesten Begleiter seiner Literaturkarriere ins Sprachlose zu marginalisieren, um sich jetzt der echten Scheinwelt der Politik zuzuwenden, wo es nichts Spitzes mehr gibt, nur Einfluss? 

Ist da wirklich kein Platz mehr für einen sprechenden Igel, in dieser Welt der Verantwortlichen, die in Wolfram Lotz’ Politiker-Drama sonst alles können, nur nicht Igel sein? Dabei war der weißbrüstige Säuger mit seiner Borstenabwehr und dem großen Insektenhunger schon in den frü -hesten Texten allpräsent. Etwa in dem Hörspiel «Das Ende von Iflingen», entstanden 2007, wo er frech gegen den ...

Weiterlesen mit dem digitalen Monats-Abo

Sie sind bereits Abonnent von Theater heute? Loggen Sie sich hier ein
  • Alle Theater-heute-Artikel online lesen
  • Zugang zur Theater-heute-App und zum ePaper
  • Lesegenuss auf allen Endgeräten
  • Zugang zum Onlinearchiv von Theater heute

Sie können alle Vorteile des Abos
sofort nutzen

Digital-Abo testen

Theater heute 6 2022
Rubrik: Laudatio, Seite 37
von Till Briegleb

Weitere Beiträge
Der Überlebende

Wer sollte in Joshua Sobols «Ghetto» Jacob Gens spielen, den jüdischen Polizeichef und Herrn über Leben Tod im Wilnaer Ghetto 1942/43, den Mörder und Kollaborateur mit den Nazis, der sich die Hände schmutzig machte und viele in den Tod schickte, um einige vielleicht zu retten oder ihnen vielleicht wenigstens noch eine Gnadenfrist zu erhandeln? Peter Zadek fragte...

Sündenpfuhl und Mülltrennung

Weimarer Republik, speziell Berlin, interpretiert als Vorhölle der Nazi-Zeit: Seit er 2013 erstmals in ungekürzter Originalfassung erschienen ist, wird immer wieder der Erich-Kästner-Roman «Fabian oder Der Gang vor die Hunde» gespielt. Im Mittelpunkt: Jakob Fabian (Gábor Biedermann), Werbetexter für eine Zigarettenfirma, der sich Anfang der 1930er Jahre durchs...

Die Frage, wie es gesagt wird

Beim Heidelberger Stückemarkt kann es passieren, dass ein Autor zum ersten Mal sein Werk gesprochen hört. Philipp Gärtner ist es so ergangen, und als er nach der 40-minütigen Lesung aus seinem Drama «Olm» zum Nachgespräch auf die Bühne kam, sagte er: «Ich glaube, ich bin da hart an der Grenze der Verständlichkeit, vielleicht sollte ich noch mal ausmisten …?»...