Neue Wege
Ungefähr 1968 erlebte ich in Stuttgart bei einem Gastspiel des Folkwang Ballett das Werk einer jungen Choreografin, das mich unmittelbar begeisterte: «Im Wind der Zeit». Später erfuhr ich: Die Choreografin heißt Pina Bausch. In Amerika war ich mit sehr vielen modernen Choreografien in Berührung gekommen, vor allem durch die hervorragende Tänzerin Sybil Shearer, mit der ich selber gearbeitet hatte.
Obwohl das klassische Ballett seit Kriegsende große Fortschritte gemacht und Popularität erlangt hatte, erlebte ich in Stuttgart anfangs nur wenig überzeugenden Jazztanz und vermisste das Neue, das Moderne der Bewegungserfindung in den aktuellen Produktionen. Nicht zuletzt deshalb hat mich die Aufführung dieses Pina-Bausch-Stücks tief beeindruckt.
Später verfolgte ich, dass Pina Bausch ein eigenes «Tanztheater» in Wuppertal ins Leben gerufen hatte – zur gleichen Zeit, als ich nach Hamburg ging, um ein «Balletttheater» aufzubauen. Zunächst hatte ich in den aufregenden Anfangsjahren mit meiner neuen Compagnie wenig Gelegenheit, ihre künstlerische Entwicklung als Zuschauer weiterzuverfolgen. In den 70er-Jahren waren «Frühlingsopfer» und «Kontakthof» die nächsten Werke von ihr, die ich mir ...
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Tanz Jahrbuch 2023
Rubrik: Pina Bausch, Seite 86
von John Neumeier
Als Teenager in New York City habe ich zum ersten Mal ein Ballett von John Cranko gesehen: «Romeo und Julia», getanzt vom Stuttgarter Ballett. Ich war elektrisiert und hingerissen; ich wollte unbedingt dieser Romeo werden, in diesem Ballett tanzen, Teil dieser Compagnie werden. Und diesem Traum bin ich – wegen ihm – gefolgt. Die Hauptrollen in seinen Balletten zu...
Die junge Frau hat Angst – Todesangst. Sie tanzt um ihr Leben, gejagt von den schneidenden Klängen und erbarmungslosen Dissonanzen Igor Strawinskys. Elementare, rhythmische Wucht sucht ihren Körper heim. Tänzer nähern sich ihr bedrohlich. Sie sucht ihnen zu entkommen, schlägt die Arme um den bebenden Körper. Und neigt irgendwann, resigniert, den Kopf. Anique Ayiboe...
Eines Tages im Jahr 1974 habe ich meine Zahnspange kurz vor der Pforte des Opernhauses Wuppertal in eine blaue Seifendose gesteckt, habe den Pförtner gegrüßt und bin – noch bevor er etwas fragen konnte – im Ballettsaal des Tanztheaters Wuppertal verschwunden. Ich bin an jenem Tag dorthin gegangen, um zu erfahren, was mich eigentlich dazu bewegte, dorthin zu gehen.
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