Maikönigin
Im weißen Cashmere-Pullover und mit einer überdimensional großen Armbanduhr am Handgelenk sitzt John Cranko immer noch täglich rauchend im Stuttgarter Ballettstudio und scheint dabei Gedanken verloren in sich hineinzuhorchen, während er auf die Schrittfolgen der Tänzer*innen achtet. Zumindest sieht es so aus, auf dem riesigen Schwarz-Weiß-Foto, das im Proberaum des Stuttgarter Ballett hängt. Ich glaube, alle, die wir in diesem Studio geschwitzt und getanzt haben, hätten ihm gerne einmal persönlich «Hallo» gesagt oder wären mit ihm eine rauchen gegangen.
Das Foto trifft ihn gut, er wirkt cool und doch zugänglich, voller Tatendrang und mit einem Hauch Wahnsinn in den Augen. Man vergisst beim Hinsehen, wie dieser talentierte Mann einen mit seinen exquisiten Hebefiguren in Schwierigkeiten bringen konnte und wie man im Hochsommer auf seine exzentrischen Kostümideen fluchte.
In den Filmaufnahmen zu einer seiner Proben spricht er ganz charmant mit nasaler Stimme: «Du bist die Maikönigin.» Ich bin im Mai geboren und habe das immer wieder im Scherz auf mich bezogen. Als Mercutio in Crankos «Romeo und Julia» durfte ich ein paarmal den Bühnentod sterben. Das waren kleine Glücksmomente für ...
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Tanz Jahrbuch 2023
Rubrik: John Cranko, Seite 48
von Louis Stiens
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