Verwelkte Blumen
Es ist angerichtet. Der arielgleiche Sturm hat sich verflüchtigt, das lästig-lärmende Volk ist nach Hause gegangen, der bestirnte Himmel funkelt hell, und aus dem Graben steigt, mild-versonnen, legato e dolcissimo, con espressione, eine dominantisch geformte Kantilene des Solo-Cellos empor, auf deren Flügeln alle Liebenden dieser Welt Platz hätten.
Das ist der Augenblick, in dem die lang anhaltenden Entbehrungen ein Ende haben müssten; es ist jene magische Heureka-Sekunde, in welcher Otello und Desdemona eigentlich nur noch von einem einzigen Wunsch durchflutet sein dürften: O sink hernieder, Nacht der Liebe!
Doch, ach, nichts dergleichen geschieht: Pustekuchen. Wie zwei gealterte Backfische, die sich nach Jahren zufällig wiedersehen, stehen Jonas Kaufmann und Anja Harteros auf der riesigen Bühne der Bayerischen Staatsoper einander gegenüber: sich verlegen um die eigene Achse drehend, ganz und gar unfähig, den anderen zu verschlingen. Nur die zarte Andeutung einer Umarmung will ihnen gelingen, auch der glückseligmachende Kuss («un bacio!») ist wenig mehr als ein verhuscht-profanes Busserl. Leidenschaft sieht anders aus.
Oder sie ist pulverisiert, existiert nur noch in der ...
Weiterlesen mit dem digitalen Monats-Abo
Sie sind bereits Abonnent von Opernwelt? Loggen Sie sich hier ein

- Alle Opernwelt-Artikel online lesen
- Zugang zur Opernwelt-App und zum ePaper
- Lesegenuss auf allen Endgeräten
- Zugang zum Onlinearchiv von Opernwelt
Sie können alle Vorteile des Abos
sofort nutzen

Opernwelt Januar 2019
Rubrik: Im Focus, Seite 18
von Jürgen Otten
Die Terroristin trägt Prada. Schulterfrei. Lang, in eleganten Wellen, fließt die glutrote Seide an Medeas Körper herab, schmückt sie mit majestätischer Aura. Doch wie anders ist das Empfinden der gottgleichen Zauberin. Diese Frau, in deren Leben seit jeher die großen, gemischten Gefühle dominierten, ist nun durchglüht von heiligem Zorn. Zorn auf die Welt, auf die...
Drei verschiedene Opern an drei aufeinanderfolgenden Tagen: Was in Berlin oder Wien noch immer selbstverständlich scheint, ist in Italien eine Attraktion. Längst hat restriktive Kulturpolitik die einst blühende Opernlandschaft zwischen Triest und Catania zerschlagen. Ausgenommen sind ein paar Leuchttürme wie La Scala oder das Orchester der Accademia di Santa...
Draußen, vor der Tür, die Kälte. Eisige Winde, Regenfäden, grauschwerer Himmel. Drinnen, im Ballettprobensaal, das Gleiche, nur in anderen Farben, Formen, Figuren. Eine Stiefmutter, deren Seele so schwarz ist wie ihr Kleid, zwei Stiefschwestern in blaustrümpfiger Blödheit, mit geflochtenen Zöpfen auf dem Kopf und Gemeinheiten im Gehirn. In ihrer Mitte die...