Stöhnen und Jauchzen, Zittern und Zagen
Tschaikowsky hielt sie für seine beste Oper – und das will etwas heißen bei diesem stets an sich selbst zweifelnden Komponisten: «Tscharodeika» oder «Die Zauberin» aus dem Jahre 1887 (genau genommen müsste der deutsche Titel eigentlich «Die Bezaubernde» lauten), ein Werk, das (fast) niemand kennt. Nun die französische Erstaufführung in Lyon: eine Wucht! Zwar versteht man, warum das Stück nie wirklichen Erfolg hatte, selbst in Russland nicht. In seiner drittletzten Oper (es folgten nur noch «Pique Dame» und «Iolanta») versucht Tschaikowsky sehr viel auf einmal.
Im Mittelpunkt steht eine junge Frau mit einem für damalige Standards skandalösen Lebenswandel. Als Betreiberin einer Schenke verdreht sie allen Männern den Kopf. Im ersten Akt sehen wir vor allem das «Volk». Pralle Chorszenen betonen das Pöbelhafte gefährlichen Gesindels. Offensichtlich orientierte sich der Librettist Schpazhinski an Puschkins grellem «Boris Godunow» und damit indirekt an Shakespeare. Auch der Komponist zielt – sieben Jahre nach Mussorgskys Tod – auf eine Darstellung russischer Geschichte «von unten».
Im Gegensatz zu Mussorgskys Puschkin-Bearbeitung spielt Tschaikowskys Oper nicht in Moskau, sondern in der ...
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Opernwelt Mai 2019
Rubrik: Im Focus, Seite 16
von Anselm Gerhard
Am Ende, als die Kinder erdolcht sind, das Feuer erloschen, steht sie wieder alleine da: die Ausgestoßene. Selten war das Schwarz der Hinterbühne so erbarmungslos und leer wie in den letzten Takten dieser «Medea» am Essener Aalto-Theater: «Der Traum ist aus, allein die Nacht noch nicht.»
Die antike Sage erzählt von der Flucht Jasons und Medeas, des griechischen...
Dieses Liebesglück ist vollkommen. Hat zwar ein bisschen gedauert, bis die Schäferin Fillide den Werbungen Amintas nachgab; schließlich galt es – in zehn zähen Da-capo-Arien – die Wahrhaftigkeit seines Ansinnens zu prüfen. Doch jetzt, im abschließenden Duett «Per abbatter il rigore d’un crudel», gibt es kein Halten mehr. Die Augen glänzen, das Herz erzittert. Und...
Beim Schlendern durch Genuas Gassen stößt man irgendwann auf eine Gedenktafel, die besagt, dass in diesem Haus der französische Dichter Paul Valéry 1892 ein nächtliches Gewitter von apokalyptischem Ausmaß erlebte, welches ihn kathartisch veränderte, als Lyriker verstummen ließ. In «Die Nacht von Genua» hat er die Identitätskrise thematisiert: «Überall Gewitter....
