Eine Verheißung

Puccini: Manon Lescaut BERN | BÜHNEN

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Puccinis Oper «Manon Lescaut» erzählt die Geschichte einer Frau, die auf Geheiß des Vaters von ihrem Bruder in ein Kloster gebracht werden soll. Mit einer Postkutsche. Auf dem Marktplatz von Amiens machen sie halt, zwei Herren sind nun hinter Manon her, der schockverliebte Student Des Grieux und der Machtmensch Geronte. Es geht nicht gut aus. Will man das heute so noch sehen? Frauen, die der Vater ins Kloster sperrt? Nein. Und Anna Bergmann erst recht nicht, die das Stück an den Bühnen Bern inszeniert. Nicht zur gänzlichen Freude des gesamten Publikums. Aber sie hat recht.

Weitgehend.

Als erstes bekommt man was zu lesen, projiziert auf den Vorhang: «Denken Sie daran, dass auch Vergebung eine Macht ist.» Es kommen im Laufe des Abends noch weitere solcher Textstücke, sie stammen aus Margaret Atwoods Roman «Der Report der Magd». Dann öffnet sich die Bühne, und man sieht – Zukunft. Der Marktplatz ist einem hellen Ort der Repräsentation von Macht gewichen. Es gibt Nonnen, sie tragen Rot und wirken wie Mitglieder einer Sekte. Es gibt Damen in Blau, sie haben das, worauf die Novizinnen in Rot warten: ein Kind. Dazu kommt die Macht an sich: Herren in schwarzem Neopren, manche mit Waffen und von Lane Schäfer einen Tick zu albern kostümiert. Das sind Momente, bei denen man sich denkt, Bergmann müsste die Geschichte gar nicht so weit in die Zukunft verlegen, ihre Lesart ist doch eigentlich von der Gegenwart gar nicht so weit entfernt.

Denn hier herrscht, wie bei rechten Influencern oder freilaufenden AfDlern, das Gebot der Fruchtbarkeit. Propagandasprüche wie «Fruchtbarkeit ist staatliche Ressource» oder «Lesen ist für Frauen verboten» bezeugen die Ideologie des herrschenden Systems. Anna Bergmann ist da nicht zimperlich, aber sie übersetzt trefflich das Los einer Frau, die den Versuch von Selbstbestimmtheit mit Kloster büßen soll, in ein System, in dem Frauen nur dann froh werden, wenn sie sich fügen. Was die Original-Manon ja schließlich auch soll. In diesem Machtgefüge gibt es einen kleinen Unruheherd, Manons Bruder, ein straßentauglicher Schlawiner und Geschäftemacher, dem Jonathan McGovern eine erfrischende Lebendigkeit in Stimme und Spiel mitgibt. Andeka Gorrotxategi ist als Des Grieux sehr bemüht, durchaus mit stimmlichem Erfolg, aber mit bockiger Ausstrahlung. Sein Widersacher Geronte steckt in einem Fatsuit: viel zu plump, denn Christian Valle kann auch so genug Macht und Wucht verkörpern. Im zweiten Akt bewohnt Manon, durch Gerontes Geld gefügig und mit körperlicher Macht zur Gespielin gemacht, einen goldenen Käfig mit Überwachungskamera und Whirlpool, im dritten kehrt die Macht zurück. Auf der Bühne ein Teil Schwerindustrie, ein riesiger Galgen. Etwa zehn hinzurichtende Frauen (offenbar als Novizinnen gescheitert) werden herbeigeführt, eine wird gehängt – Unruhe auf der Bühne und im Publikum, sodass man gar nicht so genau mitbekommt, wie Manon und Des Grieux erschossen werden.

Aber da fehlt doch noch ein Akt. Die Wüste. Sie ist ein Traum mit ein bisschen Schnee, Manon und Des Grieux allein auf weiter Bühne. Dieser Traum ist der von Freiheit, von Selbstbestimmung. Man nimmt ihn auch gern als Wahrheit: weil Kiandra Howarth bei ihrem Rollendebüt als Manon alles kann und alles richtig macht. Sie hat ein äußerst ausdrucksstarkes, geradezu sprechendes Gesicht, jede Not, das ganze Drama kann man an ihm ablesen. Das allein, zusammen mit ihrem extrem nuancierten, betörend farbenreichen Gesang, reichte schon für große Oper, das hat Anna Bergmann klug erkannt. Ihre Manon lebt weiter, weil sie Kiandra Howarth ist, weil sie am Ende die Bühne verlässt und damit alles, was sie daran hindert, sie selbst zu sein.

Hinzu kommt, dass sie in Bern ein Händchen für die Besetzung der musikalischen Chefs haben. Alevtina Ioffe – ihr Vorgänger Nicholas Carter wird ab der Saison 2026/27 neuer GMD in Stuttgart – gibt ein strahlendes Debüt. Sie hat einen unfehlbaren Instinkt fürs Theater, denkt die Dramaturgie der Oper mit, kann das musikalische Geschehen fabelhaft klar organisieren, ist hellwach und packt zu. Eine Verheißung.

Premiere: 20. September 2025
Musikalische Leitung: Alevtina Ioffe
Inszenierung: Anna Bergmann
Bühne: Nadja Sofie Eller
Kostüme: Lane Schäfer
Video: Sebastian Pircher
Licht: Christian Aufderstroth
Chor: Zsolt Czetner
Solisten: Kiandra Howarth (Manon), Andeka Gorrotxategi (Des Grieux), Christian Valle (Geronte), Jonathan McGovern (Lescaut) u. a.


Opernwelt November 2025
Rubrik: Panorama, Seite 50
von Egbert Tholl

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