Zukunftsfinsternis

Die Stuttgarter Oper spielt die Urfassung von Mussorgskys «Boris Godunow» und koppelt sie mit der Uraufführung von Sergej Newskis postsowjetischen Szenen aus Swetlana Alexijewitschs Roman «Secondhand-Zeit»

Aktualität nicht immer nur von Seiten der Regie, sondern auch von der Musik aus anzugehen, die musikalische Dramaturgie genauso zeitgenössisch zu denken wie die theatralische, bestimmt den diesjährigen Spielplan der Oper Stuttgart. In Verdis «Don Carlos» hatte Dirigent Cornelius Meister als Appetizer die von der russischen Protestgruppe Pussy Riot angeregte lautstarke «Pussy-Polka» des Komponisten Gerhard E. Winkler geschmuggelt. Im März steht Hans Zenders orchestrale Übermalung von Schuberts «Winterreise» auf dem Programm.

Ende Juni folgt Mascagnis «Cavalleria rusticana», die hier einmal nicht mit Leoncavallos «Pagliacci», sondern mit Salvatore Sciarrinos «Luci mie traditrici» gekoppelt wird.

Ein kühnes Experiment freilich ist der Versuch, Mussorgskys in der herben, offeneren Ur-Fassung gespielten «Boris Godunow» – von dem Andrej Rimsky-Korsakow (der Sohn des Komponisten) sagte, es sei «das weitblickende Auge des ahnungsvollen Volkes, gerichtet in die Finsternis der Zukunft» – mit Szenen aus dem postsowjetischen Alltag zu einer simultanen Erzählung zu verbinden. Der russische Komponist Sergej Newski hat aus dem Dokumentar-Roman «Secondhand-Zeit» der Literatur-Nobelpreisträgerin ...

Weiterlesen mit dem digitalen Monats-Abo

Sie sind bereits Abonnent von Opernwelt? Loggen Sie sich hier ein
  • Alle Opernwelt-Artikel online lesen
  • Zugang zur Opernwelt-App und zum ePaper
  • Lesegenuss auf allen Endgeräten
  • Zugang zum Onlinearchiv von Opernwelt

Sie können alle Vorteile des Abos
sofort nutzen

Digital-Abo testen

Opernwelt März 2020
Rubrik: Im Focus, Seite 8
von Uwe Schweikert

Weitere Beiträge
Dekonstruktion des Titans

Die quasi religiöse Beethoven-Verehrung vergangener Zeiten scheint nicht mehr en vogue, selbst in diesem Jubiläumsjahr. Bereits vor 20 Jahren stellte die FAZ im Zusammenhang mit einer Neuedition von Beethovens Briefwechsel fest, dass der «Klassiker-Kanon an normativem Druck verloren» habe, und damit auch jene «Einschüchterung durch Klassizität», gegen die Brecht...

Richards Traum

Man mag es kaum glauben, dass hinter der trostlosen Fassade mit dem bröckligen Mauerwerk und den verwitterten Fensterrahmen einmal Musikgeschichte geschrieben wurde. Immerhin verkündet eine Gedenktafel, dass ein gewisser Rihards Vāgners zwischen 1837 und 1839 in dem Haus als Dirigent und Komponist tätig war und dass außerdem 1842 Ferenzs Lists, 1844 Klāra...

Spiegel des Grauens

Irgendwann an diesem Abend durchfliegt einen der Gedanke an Beethovens «Eroica». Und die Frage, wie viele Musiker wirklich nötig sind, um dieses symphonische Schlüsselwerk angemessen zu interpretieren. Während heute bis zu 80 Musiker auf dem Konzertpodium sitzen, waren es bei der Uraufführung der Symphonie anno 1803 im Palais des Fürsten Lobkowitz gerade einmal...