Wege ins Freie. Was bleibt von 2023/24?

Bilanz des Jahres

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1. Opernhaus: Oper Frankfurt
2. Sängerin und Sänger: Asmik Grigorian, John Osborn
3. Regie: Lydia Steier
4. Dirigent: Pablo Heras-Casado
5. Uraufführung: Lang: Dora, Staatsoper Stuttgart
6. Aufführung: Schönberg: Moses und Aron, Oper Bonn Tschaikowsky: Pique Dame, Opéra de Lyon Weinberg: Die Passagierin, Bayerische Staatsoper München Wagner: Tannhäuser, Oper Frankfurt Martinů: The Greek Passion, Salzburger Festspiele 2023
7. Wiederentdeckung: Bertin: Fausto, Aalto Musiktheater Essen
8. Bühne: Dmitri Tcherniakov
9. Kostüme: Gianluca Falaschi
10. Nachwuchskünstler: -
11. Orchester: Bayerisches Staatsorchester
12. Chor: Chor der Oper Frankfurt
13. Ungewöhnlichste Opernerfahrung: -
14. Bücher: Peter Gülke: Von geschriebenen Noten zu klingenden Tönen (Bärenreiter/Metzler) Jeremy Eichler: Das Echo der Zeit (Klett-Cotta) Arnold Jacobshagen: Maria Callas. Kunst und Mythos (Reclam) 
15. CD/DVD: Michael Spyres, In the Shadows (Erato)

Die Frage ist häufig gestellt, aber nie letztgültig beantwortet worden: Was ist der Mensch? Auch Immanuel Kant, dessen 300. Geburtstag die (philosophische) Welt in diesem Jahr begeht, hat sich eingehend mit ihr beschäftigt, sie aber in einen moralisch-idealischen Kontext gestellt.

In seiner «Kritik der reinen Vernunft» nennt Kant jene drei Fragen, die auch in der Kunst relevant sein sollten: «Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen?» Die vierte Frage, sie findet sich in der (noch im Auftrag Kants) von Gottlob Benjamin Jäsche herausgegebenen «Logik» aus dem Jahr 1800, bündelt die drei vorangegangenen, ist gewissermaßen deren philosophisch-anthropologische conclusio. Kant selbst hält sich mit einer Diagnose allerdings zurück. Zwar bezeichnet er den Menschen als ein «animal rationable», als ein zur Vernunft begabtes Tier, schränkt seine Hoffnung aber sogleich wieder ein, wenn er – wiederum in der «Kritik der reinen Vernunft» – den Verdacht ausspricht, moralische Vollkommenheit sei für den endlichen Menschen nicht erreichbar, da dieser immer wieder von Neigungen angefochten würde, die der Moral entgegenstünden; dem erwünschten Zustand könne sich der Mensch folglich nur in einem unendlichen Prozess immer weiter annähern.

Die ästhetische Anschauung, darin ist sich Kant mit Schiller einig (dessen Traktat «Über die ästhetische Erziehung des Menschen» fünf Jahre nach Kants «Kritik der Urteilskraft» erschien), könnte hier helfen. Und zwar in Gestalt eines genialen Künstlers, der, so das idealistische Postulat des Philosophen, große Kunst schaffe, indem die Natur selbst durch ihn künstlerisch kreativ werde. Wichtig für Kant ist dabei, dass nicht das Bemühte, Schulmäßige und Erwartbare in der Kunst zum Ausdruck gebracht werde, sondern das genaue Gegenteil. «Originalität» ist das Zauberwort, sie müsse als Muster schöner Kunst taugen. Wobei der Begriff der Schönheit im besten Fall mit dem der Erhabenheit zu verknüpfen sei.

Wie aber regiert Kunst auf die Realität? Wie sehr ist sie von ihr durchdrungen? Diese Frage muss nach dem 7. Oktober 2023 womöglich noch einmal anders gestellt werden. Der Überfall der islamistischen Terrororganisation Hamas hat nicht nur schier unglaubliches Leiden mit sich gebracht, er bedeutet nicht nur eine neue, inhumane Stufe der Eskalation und eine Vertiefung der religiösweltanschaulichen Gräben – dieser Tag hat betrüblicherweise auch jenen virulenten Antisemitismus, der selbst in scheinbar «modernen» Gesellschaften unter der demokratischen Oberfläche hervorblinzelt, zum Vorschein gebracht. Antisemitismus, so traurig diese Diagnose anmutet, ist wieder gesellschaftsfähig geworden und gilt in bestimmten Kreisen höchstens als Kavaliersdelikt. Vielleicht war er aber auch nie verschwunden, nur verborgen, latent weiter schwelend wie ein Brand, der nie verglüht, wie es eine jüdische (Seder-)Weisheit prophezeit: «In jeder Generation wird sich ein Feind erheben, der uns vernichten will.» Auch Kant war – wie ebenfalls Johann Gottlieb Fichte, der Vordenker eines deutschen Nationalismus, die Religionsphilosophen Friedrich Schleiermacher und Ludwig Feuerbach (von Achim zu Arnim ganz zu schweigen) – wahrlich nicht frei von solchen Ressentiments; er sah mit Blick auf die Juden keine Gleichheit der bürgerlichen Rechte, wo keine Gleichheit der Pflichten gegeben sei.

Das Erschütternde an Kants Einwand ist die geschichtliche Kontinuität, die er beschreibt. Nicht erst mit Beginn der bürgerlichen Selbstbehauptung im späten 18. Jahrhundert (die ja nicht zuletzt auf kantischen Freiheitsidealen gründet) wird die Minorität der Juden als globalverschworene Bedrohung der traditionellen Gesellschaftsordnung und der im Entstehen begriffenen Nation verstanden (wobei Deutschlands Kleinstaaten sich der Gleichstellung weit mehr widersetzen als andere Nationen wie etwa Frankreich, Italien und die Vereinigten Staaten von Amerika, wo die Juden bereits 1776 völlige Rechtsgleichheit erlangen, während in Preußen noch 1812 Juden zwar prinzipiell als Staatsbürger anerkannt werden, aber nur mit Einschränkungen bei ständischen Rechten, Staatsdienst-Anstellungen und Wehrpflicht). Ein Hauptgrund für den Antisemitismus ist der grassierende Nationalismus: Das Judentum wird als kollektiver Mangel empfunden, als das Andere, Fremde, Nicht-Assimilierbare. Gepaart ist das mit der Vorstellung von einem betrügerisch-raffinierten, raffgierigen jüdischen Wirtschaftsgebaren. Damit bildet die Anti-Emanzipationsbewegung bereits jene Ressentiments heraus, die später auf mehr oder minder direktem Weg nach Auschwitz führen. Wer es nicht glaubt, möge bei Fichte nachlesen. Dort, in den «Reden an die deutsche Nation», wird er jenen verhängnisvollen Satz finden, in dem der Philosoph der Ich-Setzung die Verbannung der Juden «in ihr gelobtes Land» fordert. Und weiter heißt es in der gleichen Schrift, dass die Juden «entweder verschmolzen oder ausgewandert werden». Die Krux: Mögen sich die Ausdrücke geändert haben, die Ansichten sind die gleichen geblieben.

Auch in der Geschichte der Oper bildet sich diese antiaufklärerische Tendenz über die vergangenen Jahrhunderte immer wieder ab. Und man muss nicht bei Richard Wagner verharren, dessen Antisemitismus so obsessiv, so tiefsitzend war wie seine Liebe zur Revolution, um einen erheblichen Mangel an Toleranz festzustellen. Interessant im Fall Wagner ist die Tatsache, dass er gegen Giacomo Meyerbeer wetterte, Jacques Fromental Halévy hingegen verschonte (was ihn übrigens nicht abhielt, sich bei beiden wie eine diebische Elster freimütig zu bedienen). Dabei waren es eben diese beiden Komponisten, die Mitte der 1830er-Jahre – der Bürgerkönig Louis Philippe hatte in Frankreich jegliche Beschränkung zur Aufführung jüdischer Bühnenwerke aufgehoben – mit ihren Werken einen radikalen Neuanfang wagen durften: Halévys «La Juive» und Meyerbeers «Les Huguenots» waren die ersten Opern aus jüdischer Feder, die in Paris uraufgeführt wurden (und in gewisser Weise auch den Weg für Jacques Offenbach und dessen Opéra bouffes ebneten). Während die «Hugenotten» schnell den Weg ins Repertoire fanden, musste die «Jüdin» lange Zeit warten, bis man ihren Wert wieder erkannte. Noch länger auf ihre Wahrnehmung warten musste eine Oper, die seit ihrer szenischen Uraufführung in Bregenz 2010 langsam, aber sicher Eingang in den Kanon findet: «Passashirka» («Die Passagierin») von Mieczysław Weinberg. 1968 in der Sowjetunion vollendet, wurde die Auschwitz-Oper, deren Grundlage eine autobiographische Novelle der jüdischen Autorin Zofia Posmysz bildet, Jahrzehnte lang totgeschwiegen; erst 2006 kam es in Moskau zu einer konzertanten Aufführung. Beide Bühnenwerke, «La Juive» wie «Passashirka», sind von der Rezeption sehr zwiespältig aufgenommen worden, beide stehen, nicht zuletzt auch deswegen, im Mittelpunkt des Jahrbuch-Essays, der sich mit «Antisemitismus und Oper» auseinandersetzt (S. 87); und beide spielten in der vergangenen Spielzeit eine tragende Rolle.

Blickt man zurück auf diese zehn Monate, fällt dreierlei auf: einmal die Courage vieler Häuser, neue Werke in Auftrag zu geben, die in den meisten Fällen gesellschaftliche Diskurse aufgreifen oder sie sogar entzünden. Dann die Neigung, sich mit dezidiert politischen Stoffen zu beschäftigen, so eben auch mit Opern, die religionsgeschichtliche Konflikte oder Katastrophen aufgreifen, Opern wie «La Juive», «Passashirka» oder «Moses und Aron». Und schließlich eine Tendenz, sich der prekären, die Condition humaine in den Fokus stellenden Stoffe zumal mit couragierten Inszenierungsansätzen und unter Zuhilfenahme wirkmächtiger Bilder anzunehmen. Seinen Niederschlag fand diese diskursive Vielfalt in der Kategorie «AUFFÜHRUNG DES JAHRES». Gleich fünf Inszenierungen teilen sich mit identischer Stimmenzahl diesen Titel: Zunächst war da Lorenzo Fioronis Lesart von Schönbergs heiklem, unvollendetem Opernoratorium «Moses und Aron» in Bonn, die sich einer gleichsam journalistischen Aktualisierung virtuos entzog und einzig der visuellen Kraft des Theaters als Ort des reinen Spiels vertraute – in Paul Zollers kongenialer Raumlösung fügte sich alles, ohne je konkret (und historisch) eine der Situationen zu bebildern, zu einem vielstimmigen Bild, das die Elemente Märchen, Puppenspiel, Grand Opéra und Körpertheater virtuos zu einem zeitlos aktuellen Gesamtkunstwerk verband. Eine ähnliche Drastik waltete in Timofej Kuljabins Deutung von Tschaikowskys «Pique Dame» in Lyon, die das Theater-auf-dem-Theater-Prinzip nutzt, um den Menschen aus der Entstehungszeit der Oper mit dem Menschen im gegenwärtigen Russland in eins zu setzen und ihn als unrettbar verlorenes Individuum zu zeigen – und eine von Friktionen und Abgründen zersetzten Gesellschaft, die ihren Glauben an sich längst an den Nagel gehängt hat. Die dritte nominierte Inszenierung spaltete die Geister. Tobias Kratzer verweigerte sich an der Bayerischen Staatsoper einer konkreten Bebilderung von Auschwitz und verstand Weinbergs «Passagierin» als eine Parabel über den Zynismus einer feierlustigen, das Andere nicht einmal mehr wahrnehmenden Bourgeoisie. Auch Matthew Wild wählte an der Oper Frankfurt für seine Sicht auf Wagners «Tannhäuser» einen kühnen Weg: Sein Liebesdiskurs weitet die heterosexuelle Grundierung des Originals aus, um die Verklemmtheit des bigotten Bürgertums als hohle Formel zu entlarven. Simon Stone schließlich legte in seiner reduktionistischen Neudeutung von Bohuslav Martinůs Roman-Vertonung «The Greek Passion» bei den Salzburger Festspielen 2023 den Fokus auf den Topos «Flüchtlingskrise», verortete diese «Krise» aber nicht bei jenen, die sie angeblich auslösen, sondern bei denen, die sie durch fehlende Humanität erst ermöglichen.

Um fehlende Humanität und rassistische Ausgrenzung geht es auch in Detlef Glanerts «Jüdin von Toledo» (Dresdner Semperoper) und in Hèctor Parras «Justice» (Grand Théâtre de Genève). Doch nicht eines dieser beiden Stücke wurde zur «URAUFFÜHRUNG DES JAHRES» gekürt, sondern «Dora» von Bernhard Lang – ein, wenn man so will, privates Drama um eine junge Frau, die der Enge ihrer Familie zu entfliehen sucht. Doch das Private weitet sich zum Politischen – Artenschutz, Klimakrise, Katastrophen-Tourismus, das sind die Topoi, die Frank Witzel in seinem Libretto verarbeitet und seiner Titelheldin mit auf den Weg ins Freie in den Rucksack packt. Dahinter verbirgt sich eine der wesentlichen Fragen menschlicher Existenz: Was ist der Sinn des Lebens? Des Teufels Antwort darauf ist von nachgerade philosophischer Weisheit: «Verzweiflung entsteht, wenn man auf die Antwort schaut.»

Auch in Louise Bertins «Fausto» spielt der Gegenspieler Gottes naturgemäß eine herausragende Rolle; so steht es ja bereits in dem Buch, welches auch dieser Oper zugrunde liegt. Während aber einige andere Vertonungen des Stoffes, allen voran die von Gounod, Berlioz, Boito und selbst noch Busonis «Doktor Faustus» den Weg auf die internationalen Bühnen gefunden haben, war Bertins Semiseria (die erste musikdramatische «Faust»-Adaption überhaupt) seit ihrer Uraufführung 1831 in Paris das Schicksal zahlloser Faust-Opern beschieden: Sie verschwand in den Schubladen. Erst der Forschungseifer des Palazzetto Bru Zane ermöglichte es, dass die Oper, zunächst konzertant, aufgeführt wurde. Am Aalto Musiktheater Essen erfolgte nun die szenische Wiederbelebung. Für die von uns befragten 43 Kritikerinnen und Kritiker war das Anlass genug, diese Aufführung als «WIEDERENTDECKUNG DES JAHRES» zu würdigen. Knapp hinter Bertins «Fausto» auf Platz zwei landete «La Montagne Noire» von Augusta Holmès. Dieses ebenfalls weithin unbekannte (und wie der «Fausto» auf einem Libretto der Komponistin fußende) lyrische Drama, das nach seiner Pariser Uraufführung 1895 sogleich in Vergessenheit geriet, brachte die Oper Dortmund auf die Bühne. So sehr sich die Stoffe unterscheiden, eines eint sie: Ihre Autorinnen hatten es in einer von Männern dominierten Gesellschaft, die Frauen als Künstlerinnen kaum ernst nahm, entsprechend schwer.

Die Zeiten haben sich, zum Glück, geändert. Und so darf es nicht verwundern, dass mit Lydia Steier erneut eine Frau zur «REGISSEURIN DES JAHRES» gekürt wurde. Sie war, um es salopp zu formulieren, endlich auch mal dran. Denn schon seit Jahren fasziniert und irritiert die gebürtige US-Amerikanerin mit Regiehandschriften, die man im besten Sinne des Wortes als «schonungslos» bezeichnen könnte; erinnert sei etwa an ihre düstere Sicht auf Strauss’ «Salome» in der Spielzeit 2022/23 an der Pariser Bastille, die nicht wenige Zuschauerinnen und Zuschauer aufgrund der darin herrschenden Gewalt verstörte, damit aber den Kern des Werkes offenlegte. Dass Steier auch anders kann, ganz anders, hatte sie zuvor mit ihrer Deutung von Mozarts «Le nozze di Figaro» in Hannover bewiesen. Zu erleben war ein funkelndes Feuerwerk an Ideen, in einem schier atemraubenden Erzähltempo. In dieser Saison setzte sich das bruchlos fort – mit einer furiosen Welttheaterreise: Leonard Bernsteins «Candide» geriet am MusikTheater an der Wien zu einem hinreißend-wilden Ritt durch Zeiten, Ansichten und Empfindungen – mit der finalen Erkenntnis, dass wohl doch nichts den Menschen vor seinen Torheiten retten kann. Oder um es (sinngemäß) mit Kant zu sagen: Unser Denken hängt nicht nur von der Realität ab, sondern die Realität auch von unserem Denken und unserem menschlichen Standpunkt. Mit ihrer zweiten Regiearbeit ging Lydia Steier dann gewissermaßen aufs Ganze: Sie unterschrieb einen Vertrag an der Oper Frankfurt für eine «Aida»-Regie. Und öffnete damit beinahe die Büchse der Pandora. Denn bis heute reden sie am Main über Hans Neuenfels’ Inszenierung von Verdis Nil-Oper, die natürlich alles andere als eine Nil-Oper ist, sondern ein Stück über Rassismus und Fremdenhass. Steier kam, sah und siegte – mit einer Regiearbeit, die erneut zeigte, über wie viel (schräge) Phantasie und Scharfsinn sie gebietet, gepaart mit einem für sie typischen sarkastischen Humor, der aber nur dazu dient, die dunklen Seiten des Seins offenzulegen.

Mit dieser Arbeit trug Lydia Steier nicht unwesentlich dazu bei, dass die Oper Frankfurt zum dritten Mal in Folge zum «OPERNHAUS DES JAHRES» ernannt wurde. Wie sehr man auch die logistischen Vorteile gegenüber Häusern wie der Opéra national du Rhin, dem Theater Ulm und dem Staatstheater Regensburg, die auf den weiteren Rängen landeten, berücksichtigen mag – der Titel ist verdient. Erneut zeichnete sich das Frankfurter Programm durch geschickte dramaturgische Zusammenstellung, eine kluge Auswahl der engagierten Regisseurinnen und Regisseure aus – auch hier sei ein Wink mit dem Zaunpfahl an die Kollegen in den anderen großen Musentempeln erlaubt: In Frankfurt inszenierten sieben Frauen und nur drei Männer, von denen wiederum mit Tilman Köhler einer erneut (und mit gleich zwei Aufführungen) seine enorme Begabung unterstrich, nichtsdestotrotz aber, ähnlich wie Lorenzo Fioroni, von den großen Musentempeln nach wie vor sträflich übersehen wird. Was in einigen dieser Häuser anscheinend auch nicht angekommen ist: Stars holt man nicht, man macht sie. Frankfurt hat das auch in dieser Spielzeit wieder eindrücklich unter Beweis gestellt.

Dass der «CHOR DES JAHRES» ebenfalls am Main beheimatet ist, darf kaum verwundern. Tilman Michael hat dort derart exzellente Arbeit geleistet, dass er in der kommenden Spielzeit in gleicher Position (zunächst für ein Jahr) an der Met arbeiten wird. Dass mit John Osborn auch der «SÄNGER DES JAHRES» in Frankfurt auftrat (als Gast), kann, muss aber nicht zwingend Zufall sein. Gekürt wurde der US-amerikanische Tenor für seine fulminante sängerdarstellerische Leistung als Éléazar in Halévys «La Juive». Und nicht viel hätte gefehlt, und seine Bühnen-Ziehtochter wäre in den Genuss gekommen, den Lorbeer der «SÄNGERIN DES JAHRES» tragen zu dürfen. Doch Ambur Braid wurde, wie einige andere, von jener Frau überstrahlt, die in der Spielzeit 2023/24 mit gleich drei Rollenporträts für Aufsehen sorgte: Nach 2019 ist Asmik Grigorian unangefochten und zum zweiten Mal «Sängerin des Jahres». Ausgezeichnet wurde sie vor allem für eine Rolle, die ihr schon vor fünf Jahren den Titel eintrug – für die Salome. Diesmal aber nicht in Salzburg, sondern in Hamburg, in der vielbeachteten Inszenierung von Dmitri Tcherniakov (der mit hauchdünnem Vorsprung zum «BÜHNENBILDNER DES JAHRES» gewählt wurde und wie Gianluca Falaschi, der «KOSTÜMBILDNER DES JAHRES», bereits mehrfacher Medaillenträger ist). Neben der Salome bestach die litauische Sopranistin auch als Turandot in Wien und als Lisa in Tschaikowskys «Pique Dame» in München. Dort sitzt auch das «ORCHESTER DES JAHRES». Zum nunmehr zehnten Mal wurde das Bayerische Staatsorchester ausgezeichnet. Etwas überraschend hingegen fiel die Wahl zum «DIRIGENTEN DES JAHRES» aus. Pablo Heras-Casados «Parsifal»-Dirigat am Grünen Hügel geriet so fesselnd, dass er den Seriensieger Kirill Petrenko ablöste. In Bayreuth hat kürzlich auch Michael Spyres sein Debüt gegeben, als Siegmund. Auf dem Siegertreppchen steht er für sein Album «In the Shadows», das den Titel «CD DES JAHRES» erhielt, mit deutlichem Vorsprung. Weit weniger Klarheit herrschte in der Frage, welche Publikation das «BUCH DES JAHRES» sein könne. Am Ende teilen sich drei Autoren die Ehrung: Peter Gülke («Von geschriebenen Noten zu klingenden Tönen»), Arnold Jacobshagen («Maria Callas. Kunst und Mythos») und Jeremy Eichler («Das Echo der Zeit»). So unterschiedlich die Ansätze sein mögen, eine Frage schimmert auch hier durch. Was ist der Mensch?


Opernwelt Jahrbuch 2024
Rubrik: Bilanz des Jahres, Seite 56
von Jürgen Otten

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