Was bedeutet «Modern»?

Unter anderem dazu macht sich der Musikwissenschaftler Laurenz Lütteken in seiner Essaysammlung «Lesarten und Lebenswelten» Gedanken. Eine Pflichtlektüre. Buch des Monats.

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Der Züricher Musikwissenschaftler Laurenz Lütteken hat im vergangenen Jahrzehnt mehrere wichtige Monographien vorgelegt – zu Mozart, Richard Strauss, zur Musik der Renaissance und, unter dem Titel «Der verborgene Sinn», eine gleichermaßen originelle wie bedeutende Studie über «Verhüllung und Enthüllung in der Musik». Um das, was uns die Musik zu bedeuten hat und wie sie es sagt, geht es auch in seinem neuesten Buch «Lesarten und Lebenswelten», das in dreiunddreißig Essays Erkundungsgänge vom italienischen Trecento bis zur Postmoderne unternimmt.

Der Leser begegnet auf diesem Weg Altbekanntem, aber auch gänzlich Unbekanntem. Allemal sind es heterogene Mosaiksteine, die einerseits im Sinne von Goethes «zarter Empirie» im zugespitzten Detail das Ganze erfassen, andererseits den heute oft ausgeblendeten lebensweltlichen, also biographisch-sozialhistorischen Horizont von Musik aufreißen.

etzteres trifft auf die beiden umfangreichsten Texte des Bandes zu, Porträts von Max Reger und Sergei Rachmaninow – Namen, die im allgemeinen Bewusstsein eher negativ konnotiert sind. Das Leben des schweren Alkoholikers Reger besitzt katastrophischselbstzerstörerische, das des zwischen seiner Doppelbegabung als Komponist wie Interpret hin- und hergerissenen Rachmaninow tragische Züge. Während Lütteken für die Widersprüche in Rachmaninows musikalischer Identität Interesse zu wecken weiß, blendet er bei Regers «gewaltsam domestizierter Zerrissenheit» aus, wie in seiner musikalischen Bierkutscherfahrt durch alle Tonarten die Kunst in die Brüche geht.

Lüttekens Engagement gilt, nicht erst in diesem Buch, dem Unzeitgemäßen im Zeitgemäßen, dem – wie er schreibt – «Überdenken landläufiger Begriffe von Modernität und Zeitgenossenschaft». Hier trifft er in der Tat das schwarze Loch, in dem die Avantgarde wie eine mit ihr verschworene Wissenschaft alles verschwinden ließ, was dem kompositorischen Fortschrittsfetischismus widersprach. Das gilt für Jürg Baur wie Walter Braunfels, aber auch schon für den heiter-unbequemen Emmanuel Chabrier, erst recht für eine vergessene Figur wie Maximilian Friedrich von Droste-Hülshoff am Ausgang des 18. Jahrhunderts. Lütteken widmet ihnen geschliffene Texte, die neugierig machen, mehr über sie zu erfahren und mehr von ihnen zu hören. Das gilt letzten Endes auch für den gleich viermal vertretenen Richard Strauss und seinen «willentlich eigenen… durchaus radikalen (und radikal anderen) Weg der Moderne.» Auch hier, etwa am Beispiel von «Arabella» und «Capriccio», legt Lütteken den Finger auf die Brechungen und Brüche, das gleichsam Uneigentliche mit seinen Widersprüchen also, das sich – überblickt man das Buch im Ganzen – als zentrale Kategorie des Modernen erweist.

Mit der größten Überraschung aber wartet er zum «Rosenkavalier» auf, den jeder zu kennen meint, und zwar ausgehend von jener Passage im ersten Akt, in der der Baron Ochs schamlos seine erotischen Eskapaden zur Schau stellt: «Wollt’, ich könnt‘ sein wie Jupiter selig / in tausend Gestalten, / wär’ Verwendung für jede.» Lütteken entziffert darin nicht nur den Rückbezug auf die Antike, sondern im «Jupiter selig» auch den «toten Gott» Max Stirners und Nietzsches als zentrale Denkfigur des 19. Jahrhunderts, der seinen Schatten – «fortwährend ungenau, schillernd und unscharf» – auf alles und damit auch auf Sophies und Octavians Schlussgesang wirft.

Überhaupt ist es gerade der Opernbesucher, der in Lüttekens Mosaik reichlich Stoff zum Nach- und Überdenken zäher Klischees findet. Anders als gewohnt entpuppt sich Monteverdis «Orfeo» gerade nicht als Wiedererweckung der antiken Tragödie, sondern als «genuines Produkt der Neuzeit», als theatralische Repräsentationsform seiner eigenen Gegenwart, die die Antike übertreffen sollte. Ebenso werden die «Wiener Wirklichkeiten» des Jahres 1786, denen Lorenzo Da Ponte nach allgemeiner Überzeugung im Libretto des «Figaro» politisch die «Zähne gezogen» (Hanns Eisler) hat, erst durch die bedingungslos psychologische Seelenerkundung der Musik möglich und glaubhaft. Ähnlich provozierend sind auch Lüttekens Blicke auf Verdi – «Luisa Miller» sei gerade kein Zurückgehen hinter Schiller, sondern als musikalisches Drama revolutionär darüber hinausgehend; und «La traviata» «Realismus durch ‹Inspiration›», weil die Form nur noch als Hülse dient, «um zu zeigen, dass sie in sich nicht mehr funktionieren kann», also selbstreferentiell ist. Ähnlich Originelles weiß er zu Wagner und Orff zu sagen.

Mit seiner Mischung aus Vergnügen und Belehrung, verbaler Brillanz und bohrender Genauigkeit ist Lüttekens Buch Pflichtlektüre für jeden an Musik Interessierten und von ihr Begeisterten. Von ihm selbst aber wünscht man sich, im Sinne des Hegel’schen Dreischritts, die emphatische, in seinem Verständnis «gescheiterte» Moderne und die «andere» Moderne nicht länger als einander ausschließende Gegensätze, gar auseinanderlaufende Parallelen zu fokussieren, sondern sie als zwei Facetten, zwei Seiten ein- und derselben Erfahrung und Geschichte zu erhellen. Diese Synthese wäre dann wirklich ein Fortschritt der Erkenntnis.

LÜTTEKEN: LESARTEN UND LEBENSWELTEN
Essays zur Musik
Bärenreiter-Verlag/Kassel & Verlag J. B.Metzler/Berlin 2024. 243 Seiten; 39,99 Euro


Opernwelt März 2025
Rubrik: Medien, Seite 31
von Uwe Schweikert

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