Foto: A.T. Schaefer

Raskolnikow reloaded

Jossi Wieler und Sergio Morabito verlegen Tschaikowskys «Pique Dame» an der Oper Stuttgart in die realkapitalistische russische Gegenwart

Opernwelt

Die Inszenierung ist am 16. September 2017 um 20.15 Uhr auf 3sat zu sehen.

Es ist Nacht über Sankt Petersburg. Unheilvolle Nacht, tonartenlos zunächst. Nur noch jene verlorenen Seelen, denen die Hoffnung auf ein besseres Leben längst abhanden gekommen ist, treiben sich auf den Straßen herum. Unter ihnen die einstige «moskowitische Venus». Wo früher der Lippenstift gezückt wurde, geht der Griff nun zum Flachmann; schmählicher Trost einer verblühten Schönheit. Um sie herum andere Alte, die einen mit ihren Habseligkeiten vollgestopften Einkaufswagen auf Anna Viebrocks labyrinthisch verschlungene Hintertreppendrehbühne schieben. Dürftiger ist Dasein kaum denkbar, hier wird es zum Menetekel für die alles entscheidende Begegnung zweier aussichtslos aneinandergeketteter Menschen.

Es ist das Treffen der Welterschütterung. Die Paarung gescheiterter Utopien. Aber sie ist ganz anders, als wir sie kennen. Wie magisch angezogen von der geheimnisvoll-kapriziösen Aura dieser Frau (Helene Schneiderman), von der Bezauberung, die ihr «Bild» in ihm auslöst, vielleicht auch unfähig, seine Gefühle unter Kontrolle zu halten, lässt sich German schon im g-Moll-Teil des dunklen Duetts, während er noch auf die Gewissheit der drei Karten drängt, auf ein amouröses Getändel ein, das von Sekunde zu Sekunde dichter, unglaublicher, entgrenzter wird. Bis die Körper sich schließlich behutsam wollüstig ineinanderschlingen, Arme, Beine, Lippen, Unterleiber, bis zur letzten Zuckung. Absurde, hypersentimentale Konstellation. Doch gerade deswegen dazu angetan, uns zu berühren.

Zum Stück, zu seinem Geist, passt die Idee. Weil sie ein Gegenbild kreiert. Denn sonst ist, nicht zuvor und nicht danach, von Liebe weder etwas zu sehen noch zu spüren (und auch nicht zu hören: Sylvain Cambreling stiftet das Staatsorchester Stuttgart zu einer über weite Strecken schroffen, extrem ruppigen Gangart an). Jossi Wieler und Sergio Morabito verlegen Tschaikowskys Musikdrama mit dramaturgischer Finesse und punktgenauer Partiturlektüre in die realkapitalistisch gewendete Sowjetgesellschaft. Am Ende des dritten Bildes etwa, wenn im Libretto Zarin Katharina gehuldigt wird, tritt ein spärlich bekleidetes Tabledance-Girl auf.

Es gilt das Recht der Stärkeren. Wer Schwäche zeigt, wird entsorgt, wer sich nicht an die Regeln hält, geht unter. Und mag der einst schmucke, nun nur noch schäbige Palazzo sich drehen, wie er will, das Leben in diesem Russland ist für die Ärmsten der Armen längst Synonym für Stillstand – was gerade die rustikalen, vom Stuttgarter Chor stimmlich wie darstellerisch wunderbar ausagierten Massenszenen mit ihrer ekstatischen Befeuerung in dialektischer Volte unterstreichen.

Noch vor dem ersten Ton sehen wir Lisa im Fenster ihrer Wohnung in Verhandlungen mit einem Kunden (es ist, im Schattenriss zu erkennen, «Fürst» Jeletzki), mit dem sie bald, während mit Aplomb und sattromantischen, schicksalsbeschwerten Streicherklängen die h-Moll-Introduktion anhebt, handelseinig wird. Dieses Joch wird sie nicht mehr los. Auch German behandelt sie als das, was sie ist: eine abhängige Sexarbeiterin; er folgt damit aber nur einer «guten» (literarischen) Tradition: Schon der anonyme «Autor» von Dostojewskis «Aufzeichnungen aus einem Kellerloch» trat seine Lisa erbarmungslos in den Schmutz.

Habituell erinnert Erin Caves, dessen stimmliche Muskelmasse so ganz zu seiner viril-kämpferischen Ausstrahlung passt, an einen anderen Helden dieses Autors: Raskolnikows Nervenfieber ist auch Germans, dessen aufrührerisch-zerrüttete Seele ihm wesensverwandt, das Teppichmesser in seiner Hand virulente Bedrohung, zumal für Lisa. Während ihres ersten Rendezvous, eines Moderato agitato, das allein wegen seiner Tonart d-Moll als düstere Vorahnung kenntlich wird, lässt er die Klinge von ihren Füßen über ihr (äußerst knappes, mit Katzen bedrucktes) Kleid bis hinauf zur Kehle gleiten, gleichsam den gesamten Leib der Leibeigenen ritzend.

Rebecca von Lipinski, die in Stuttgart schon die Tatjana gesungen hat, geht nicht nur in dieser atemlosen Szene bis an die Grenzen des Aushaltbaren. Im Kollektiv der Prostituierten, die tagein, tagaus um die Häuser streichen, ist sie das schwächste Glied. Und wird entsprechend gedemütigt. Polina, Anführerin der Gemeinen – Stine Marie Fischer, hier blondes Biest, gibt späterhin, im Intermezzo, an der Seite der ins Komisch-Surreale gezerrten Mascha von Yuko Kakuta, mit hinreißender Spiellust den Schäfer Daphnis –, entreißt ihr Handtasche und Stofftier, verhöhnt sie in ihrem eben nur scheinbar lichten es-Moll-Lied, das bereits die Schlusstonart der Oper antizipiert; die «Gouvernante» stellt derweil ihre Mädels in Reih und Glied auf. Der Straßenstrich als militärische Formation.

Raue Sitten und Rudelordnung dominieren auch die Männerwelt. Tomski (Vladislav Sulimsky) ist der Anführer eines mächtigen Häufleins gestrandeter Gestalten, der Einzige, der einen Anzug trägt. Seine Untergebenen Tschekalinski, Surin, Tschaplitzki und Narumov geben die Hofnarren respektive Fieslinge, die sich die Hände dreckig machen, wenn es darum geht, German zu terrorisieren (wofür sich dieser im letzten Akt dann zu rächen weiß). Sie alle spielen sich das Leben aus dem Leib, um wenigstens etwas zu spüren, um der Sinnlosigkeit ihres Soseins (die ihnen durchaus bewusst ist) zu entfliehen, sie zu sublimieren.

«Fürst» Jeletzki ist, nicht nur seiner Geldmacht wegen, in dieser Welt ein Außenseiter. Grauer Anzug, Melone, strengverspannter Gesichtsausdruck, das nähert sich – obschon Shigeo Ishinos Bass von erlesener Würde ist – rollentechnisch der Karikatur an. Und wird vollends zu ihr, wenn er, in bester Absicht (und um ihr, con grandezza, seine Liebeserklärung «vorzulesen») zu Lisa hintritt, dabei aber eine Katzenmaske trägt, die verblüffend Lisas Stofftier ähnelt. Selbst im finalen Moment wird dieser Mann, den Geld und Stand weit mehr beflügeln als Germans Gefühlsglut, kein Sieger sein. Das Volk der dosenbiertrunkenen, kartenspielenden Männer nimmt ihn kaum zur Kenntnis.

Des Antihelden Schicksal hingegen macht sie betroffen – erst im abschließenden Choral, dann im stummen Epilog. Und nicht nur sie. Die Gräfin hat sich erholt, ihr Liebestod war vorgetäuscht, eine Fata morgana;nun steht sie vor ihm, der sein Schicksal in die Hand nahm, um es selbstverschuldet aus den Händen gleiten zu lassen, schiebt ihn in jene geheimnisvolle Schleuse ihres Windfangs, dem sie zuvor, nicht selten nackt unter teurem Pelz, stets entstieg, letzter Zufluchtsort des irren Deutschen. Es ist dieser zweite, «wahre» Liebestod, der Wielers, Morabitos und Viebrocks aus dem Geist Dostojewskis entwickelte Lesart zu einer bedeutenden, tief empfundenen, humanen Parabel werden lässt. Weil sie uns die Augen öffnet für die Brutalität einer Welt, in der nur noch Platz für Alphatiere ist. Und weil sie, ganz am Ende, diesen zarten Funken Menschlichkeit entzündet.


Tschaikowsky: Pique Dame
STUTTGART

Premiere am 11., besuchte Vorstellung am 14. Juni 2017

Musikalische Leitung: Sylvain Cambreling
Inszenierung: Jossi Wieler, Sergio Morabito
Bühne und Kostüme: Anna Viebrock
Licht: Reinhard Traub
Chor und Kinderchor: Johannes Knecht
Solisten: Erin Caves (German), Vladislav Sulimsky (Tomski), Shigeo Ishino (Jeletzki), Torsten Hofmann (Tschekalinski), David Steffens (Surin), Tschaplitzki (Gergely Németi), Michael Nagl (Narumov), Helene Schneiderman (Gräfin), Rebecca von Lipinski (Lisa), Stine Marie Fischer (Polina), Maria Theresa Ullrich (Gouvernante), Yuko Kakuta (Mascha)

www.oper-stuttgart.de

Eine Aufzeichnung der Produktion wird am 16. September 2017 um 20.15 Uhr auf 3sat ausgestrahlt.


Opernwelt August 2017
Rubrik: Im Focus, Seite 4
von Jürgen Otten

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