Licht und Schatten, Tiefe ohne Schwere

Vor 100 Jahren, genau: am 4. November 1924, starb Gabriel Faurè. In seinem Land gilt er vielen als der «französische Schumann», diesseits des Rheins steht man seinem Œuvre mit Erstaunen gegenüber. Eine kritische Würdigung des Komponisten und seiner Musik

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Die Musik Frankreichs hat es in Deutschland seit jeher schwer. Das Barock mit Meistern wie Couperin, Lully, Marais und Rameau führt hierzulande noch immer ein Schattendasein. Aber auch die Wertschätzung der Musik des 19. und frühen 20. Jahrhunderts beschränkt sich jenseits der Namen von Berlioz, Debussy und Ravel auf die Kenner und Liebhaber dieser einzigartigen Kunst zwischen Eleganz und Clair-obscur. Das gilt selbst für Gabriel Fauré, den «französischen Schumann», wie ihn seine Landsleute nannten. Diesseits des Rheins sah man es anders.

Als Fauré 1905 Deutschland besuchte, schrieb er seiner Frau: «Was man an meiner Musik kritisiert, ist ihre etwas kühle Wirkung und ihre Abgehobenheit! Wir dürfen wirklich nicht daran zweifeln, unterschiedlicher Herkunft zu sein.»

Für Jean-Michel Nectoux, Verfasser der großen Monographie wie des Œuvre-Verzeichnisses, ist Fauré mit berechtigter Überzeugung der «französische Komponist par excellence». Andererseits rücken ihn sein Werdegang, sein Schaffen wie seine Ästhetik in die Position eines Außenseiters, ja, Solitärs. Es ist leichter zu sagen, wofür Fauré nicht steht, als was er ist – jedenfalls kein Spätromantiker wie sein Kompositionslehrer und väterlicher Freund Camille Saint-Saëns, aber auch kein Impressionist wie Debussy, gar ein Neoklassizist avant la lettre wie Erik Satie. Als er 1845 geboren wurde, stand Berlioz auf der Höhe seines Schaffens, als er 1924 starb, schockierten die Komponisten der Six um Francis Poulenc mit ihren bewusst banalen Klängen die Musikwelt. «Ich habe gemacht, was ich konnte … also urteile, lieber Gott», sollen seine letzten Worte gewesen sein.

Fauré war weder Absolvent des Pariser Konservatoriums mit seinen strengen Regeln noch ein Mann der Oper – Institutionen, die im Frankreich des 19. Jahrhunderts das Musikleben beherrschten. Als Neunjähriger wurde er Zögling der 1853 gegründeten École de musique classique et religieuse, einem Internat zur Ausbildung von Kirchenmusikern – einen Beruf, den er als schlecht besoldeter Organist und Chordirigent vierzig Jahre lang, von 1865 bis 1905, zunächst in Rouen und dann in Paris ausüben sollte. Hier lernte er die kontrapunktischen Techniken der alten Meister und die Kenntnis der Modalharmonik der Kirchentonarten, die seiner Musik ihre ganz individuelle Prägung gibt. Die Orgel allerdings ließ er als Komponist links liegen, und auch die liturgische Musik für den Gottesdienst beschränkt sich, mit Ausnahme des Requiems, auf wenige Gelegenheitswerke. Gerade das mit einer komplizierten Entstehungs- wie Aufführungsgeschichte behaftete Requiem aber wurde Faurés bekanntestes, meistgespieltes Werk.

In seiner versöhnlichen Haltung im Vertrauen auf göttliche Milde hebt es sich von allen Totenmessen des 19. Jahrhunderts ab – nicht nur den dramatisch großdimensionierten Vertonungen von Berlioz und Verdi, sondern auch von denen seiner Zeitgenossen Gounod und Saint-Saëns. Fauré empfand, wie er 1902 an Louis Aguettant schrieb, den Tod «eher als freudige Erlösung und glückliches Streben nach dem Jenseits und weniger als schmerzvollen Weg». Konsequent hat er in seiner Redaktion des liturgischen Textes die Sequenz mit ihrer Darstellung der Schrecken der ewigen Verdammnis gestrichen und aus ihr nur die beiden Schlussverse des «Pie Jesu» übernommen, diese allerdings ins Zentrum seiner sieben Sätze gestellt, die mit der aus der Begräbnis-Liturgie übernommenen Antiphon «In paradisum» schließen. Strengere, herbere Töne klingen nur im «Libera me» an, bei der kurz eingeblendeten Textzeile des «Dies irae, dies illa». Trotz des dunklen Kolorits der Instrumentation mit dem Schwergewicht auf den tiefen Streichern herrscht in dieser «Berceuse des Todes» (Vladimir Jankélévitch) insgesamt eine lichte Melancholie und friedvolle Innigkeit vor. Langsame, mäßig bewegte Tempi und eine stark gedämpfte Dynamik schaffen eine Atmosphäre, die im intimen, von seraphischer Milde erfüllten «Pie Jesu» ihren Höhepunkt findet – umso mehr, wenn man bedenkt, dass dieses Solo ursprünglich für einen Knaben-Sopran bestimmt war. Im selben ätherischen, dabei von Harfenklängen umrankten Tonfall klingt Faurés Requiem mit dem Schlusssatz «In paradisum» aus: mit «jenem Versprechen, das für den Menschen das bestmögliche ist: umfassendes Vergessen, das Nirwana der Hindus oder unser Requiem aeternam», wie er 1922 an seine Frau schrieb. Die Worte «Requiem aeternam» kehren in fünf der sieben Sätze immer wieder und werden von der Melodieführung plastisch hervorgehoben. Der meist homophone, streckenweise aber auch kanonisch geführte Chorsatz erinnert in seiner Schlichtheit an die Gregorianik. Man muss bis zu Mozarts Motette «Ave verum» zurückgehen, um auf ein ähnlich berührendes, inniges, gleichermaßen kunstvolles wie einfaches musikalisches Glaubensbekenntnis zu stoßen.

Der Popularität seines Requiems hat auch Faurés Unsicherheit, ja Schwanken über die Instrumentalfassung nicht geschadet, bei der die kammermusikalische Version gegenüber der späteren Erweiterung für ein normales Sinfonieorchester gewiss den Vorzug besitzt. An der großen Form jedenfalls ist er, anders als César Franck, Saint-Saëns oder Vincent d’Indy, gescheitert. Es fiel ihm schwer, «symphonisch» im Sinne der deutschen Tradition zu denken. Musik in «Großbuchstaben» zu schreiben, wie er sich ausdrückte, war nicht seine Sache. Die erste Symphonie gleicht eher einer Suite (zwei der vier Sätze übernahm er Jahrzehnte später in die Orchestersuite seiner «Masques et Bergamasques»), die zweite hat er selbst vernichtet. Bei der Instrumentierung seiner Bühnenwerke ließ er sich von Schülern helfen – ein in Frankreich nicht ungewöhnliches Vorgehen, zu dem sogar Debussy gelegentlich griff. Kaum zufällig war er an Malerei und damit auch an musikalischer Klangmalerei nicht interessiert. Nicht den Farben, sondern dem Hell-Dunkel des Lichts, dem Changieren eines Grau-in-Grau, galt seine Aufmerksamkeit. Mit diesem Zug zur Askese hielt er sich von allem fern, was für die Musik des ausgehenden 19. Jahrhunderts charakteristisch war. Es gibt in seinem Schaffen keine Programmmusik, keine Charakterstücke, keine bildhaften Titel wie bei Debussy oder Ravel, keine Couleur locale, keinen Einschlag von Exotismus oder Folklore. «Heiße Luft und Unklarheit» – dies Faurés Urteil über die Musik des Kollegen Camille Erlanger – waren ihm verhasst, Impressionismus identisch mit «verschwommener Musik». Das Ziel einer anfangs nur vage geahnten, später aber mehr und mehr in ihrer strengen Konturierung und Linienführung konsequent verfolgten Abstraktion, die eher an die Bilder der Kubisten als an die eines Monet erinnert, erreichte er mit seinem letzten Werk, dem im Todesjahr 1924 entstandenen Streichquartett. Zunächst, ja zuallererst und dies mit einer in der französischen Musik seiner Zeit beispiellosen Ausschließlichkeit, war Fauré Melodiker und Lyriker. Die ersten Kompositionen des 16-Jährigen waren Lieder und galten Texten Victor Hugos. Damit gehört er, neben Berlioz, Gounod und dem drei Jahre jüngeren Henri Duparc zu den Schöpfern der mélodie – jener in Abgrenzung zur deutschen Form spezifisch französischen Ausprägung des Kunstlieds, die sich gerade erst aus der anspruchslosen strophischen Salon-Romanze entwickelt hatte. Mehr als hundert mélodies sollten es bis zum letzten, 1921 entstandenen Zyklus «L’Horizon chimérique» werden – trotz Debussy und Poulenc der gewichtigste, bedeutendste Beitrag zu dieser Gattung. «Sie wurden oft gesungen», erinnerte sich Fauré 1922. Und fuhr fort: «Zu wenig, um mich reich zu machen, aber dennoch so viel, dass meine Kollegen behaupteten, mit einem derartigen Erfolg innerhalb eines Genres sollte ich mich mein ganzes Leben lang diesem Bereich widmen!»

Fauré hat es getan, wenn auch nicht ausschließlich. Denn neben dem gewiss zentralen Lied-Schaffen blieben die Klavierstücke und das allerdings erst Mitte der 1870er-Jahre einsetzende, für Frankreich eher außergewöhnliche Engagement für die Kammermusik zentrale Teile seines Œuvres. Wie sonst nur noch an den Nocturnes und Barcarolles für Klavier kann man am Lied verfolgen, wie sich sein Stil, der Klang wie die Ästhetik seiner Musik über die Jahrzehnte hinweg entwickelt und verändert haben. Mögen die frühen mélodies auch noch nicht ganz den Salon-Stil der Tradition abgelegt haben, so fällt doch von Anfang an vor allem Faurés sicherer wie charakteristischer Griff bei der Wahl der vertonten Texte auf. Stets gilt seine Suche einer Musik der Verse, jener Atmosphäre des Gedichtes also, die nach Musik verlangt. Roland Barthes hat in einem seiner berühmtesten Texte («Die Rauheit der Stimme») klar gemacht, welch entscheidende Rolle dem Wort bei der Verschmelzung von Melodik und Deklamation zukommt, sodass beim späten, stark prosodischen Fauré die Vokalwerke geradezu zum Nachdenken über die Sprache werden. Er selbst spricht einmal davon, es sei die Aufgabe der Musik, «das tiefe Gefühl, das der Seele des Dichters innewohnt, zur Geltung zu bringen, denn dazu sind Worte nicht unbedingt imstande». Das geschieht, anders als im deutschen Lied, weniger durch eine psychologisierende Wortpointierung als durch die gleichsam die Atmosphäre der Dichtung einfangende Klavier-Begleitung. Sind es zunächst Gedichte der Romantiker, die ihn anziehen, so später vor allem die der Parnassiens um Leconte de Lisle, die in ihren formstrengen Versen dem Ideal des L’art-pour-l’art huldigen. Entscheidend freilich war die Begegnung mit der Lyrik des poète maudit Paul Verlaine, dessen Devise «Denn wir wollen stets den Übergang, / nicht die Farbe, nur den Ton, der schwindet, / Die Nuance!» («Art poétique») auch von Fauré selbst gesagt sein könnte. Verlaines vers libre mit seiner freien Versstruktur, die auch innerhalb einer Strophe wechseln kann, kam Faurés stark deklamatorischer Melodik entgegen. Der 1892–1894 entstandene Zyklus «La Bonne Chanson» («Das schlichte Lied»), dem 1891, ebenfalls auf Verlaine-Texte, bereits die fünf «Venezianischen» Lieder op. 58 vorausgingen, gilt zu Recht als der unübertroffene Gipfel der französischen Liedkunst. Fauré hat, inspiriert von seiner Leidenschaft für Emma Bardac (die eine glänzende Amateursängerin war und später Debussy heiratete) aus Verlaines Zyklus neun Gedichte ausgewählt und zu einer emotionalen Liebesgeschichte verbunden, in der sich Traumbilder mit Naturstimmungen abwechseln und das Glück am Ende, wie in der Oper «Pénélope», jede weltschmerzliche Melancholie vertreibt.

«Extravagantest» (so Fauré selbst) in ihrer musikalischen Überhöhung der gesprochenen Sprache sind die Lieder von «La Bonne Chanson» aber nicht nur ihrer Thematik, sondern mehr noch ihrer harmonisch wie satztechnisch äußerst gewagten Gestaltung wegen. Fauré hat die einzelnen Stücke, wie die Sätze «einer Art lyrischer Symphonie» (Nectoux), zu einer Einheit verschmolzen. Drei musikalische Motive schlingen sich wie ein Netz um das Ganze.

Vielfalt und Beweglichkeit zeichnen den immer wieder ins Polyphone ausgreifenden Klaviersatz aus, und die kühne, in -stabile Harmonik mit ihrer Chromatik streift bisweilen die Atonalität. Gleichzeitig ist die Melodik in ihrer strikt der Prosodie angeglichenen Stimmführung von einer Subtilität, Differenzierung und Ekstatik, die selbst vorausgegangene Meisterwerke wie «Claire de lune», «En sourdine» oder «C’est l’extase langoureuse» übertrifft. Da auch Debussy dieselben Verlaine-Texte vertont hat, lassen sich die Unterschiede gut erfassen. «Der eine» – so die Mezzosopranistin Claire Croiza, die mit beiden noch persönlich gearbeitet hatte – «bedient sich der Poesie, um seine musikalische Kreativität zum Singen zu bringen. Der andere, nämlich Debussy, bindet sich an die Dichtung und folgt ihr auf Schritt und Tritt […] Während Debussy dem Dichter rhythmisch treu bleibt, geht Fauré mit seinem Dichter in den Wald, um sich mit ihm zu messen.» Fauré setzt auf strenge Konturierung und klare Linienführung, die sich in einer Art balsamischem Legato durchs Ganze ziehen. Dagegen hebt Debussy wie ein nervöser Seismograph die Diskontinuität der Bilder und Empfindungen hervor, die er bis ins Geheimnisvolle «des Ungreifbaren und Unwägbaren» (Jankélévitch) verfolgt.

Fauré, der zu jenen Komponisten gehört, deren Spätwerk sich sowohl ästhetisch als auch strukturell radikalisiert, ist bei «La Bonne Chanson» nicht stehengeblieben. Nach einigen wenigen Einzelliedern, zu denen «Prison», seine letzte Verlaine-Vertonung mit ihrer gleichermaßen existenziellen wie lakonischen Dringlichkeit, gehört, hat er sich 1906 mit dem für eine Frauenstimme bestimmten Zyklus «La Chanson d’Ève» den realitätsfernen, die Wirklichkeit negierenden und transzendierenden Dichtern des Symbolismus zugewandt. 1905 wurde ein Schicksalsjahr in Faurés Leben. Nachdem er bereits seit 1896 als Kompositionsprofessor am Conservatoire unterrichtete, berief man ihn 1905 überraschend zu dessen Direktor – ein Amt, das er bis zu seiner Pensionierung 1920 mit großem Engagement ausübte und in dem er gegen viele Widerstände eine grundsätzliche Revision der musikalischen Ausbildung durchsetzte. Gleichzeitig traten erste Anzeichen eines schweren Gehörleidens auf, das mit den Jahren zunahm. Fauré litt unter Klangverdopplungen und hörte hohe Töne tiefer, tiefe dagegen höher. Die Festigung seiner äußeren Stellung ging mit einer inneren Isolation einher, die auf sein Werk nicht ohne Einfluss blieb. Victor Jankélévitch, (Musik-)Philosoph und Debussy-Biograph, führte die auffällige Bevorzugung der Mittellage in seinem Alterswerk auf die beginnende Ertaubung zurück.

Der Zyklus «La Chanson d’Ève» auf Gedichte des belgischen Symbolisten Charles Van Lerberghe (1861–1907) kann als Schlüsselwerk für Faurés reduktionistisch-kargen Spätstil gelten. Die biblische Eva tritt uns hier im Garten Eden als zugleich keusche wie sinnliche, ja fast hermaphroditische Gestalt entgegen. Im bewussten Kontrast zu «La Bonne Chanson» haben Van Lerberghes unsentimental beschreibende Verse keinen Handlungsfaden; sie kreisen in ihrer Mischung aus Mystik und Sinnlichkeit kontemplativ und introvertiert um die Schönheit wie die Leiden der Welt. Der Klavierpart, in den Verlaine-Vertonungen oft die autonome, kommentierende Gegenstimme zur Melodie, wird schmuckloser, der Gesang im Quasi-Parlando einer Art prosodischer Rezitation asketischer, ausgezehrter. Die Begleitung beschränkt sich jetzt meist auf die harmonische Stützung der Singstimme. Es ist eine gleichsam intime, sensitive wie intellektuelle Kunst, in der der Gesang zur «emphatischen Form des Sprechens» (Theo Hirsbrunner) wird. Langsame Tempi, Einfachheit und Nüchternheit, das Grisaille entspannter, ganz zurückgenommener Emotionen und verschatteter Farben, verschwebender Stimmungen und unterdrückter Wünsche herrschen vor. Die Lieder verlieren an äußerer Wirkung und gewinnen an innerer Leuchtkraft, die Horizonte verschwimmen und lösen sich auf.

Diese stilistischen Errungenschaften verstärken, ja radikalisieren sich noch in den drei letzten Zyklen «Le Jardin clos» (1914), «Mirages» (1919) und «L’Horizon chimérique» (1921), mit denen Fauré sein Lied-Œuvre abschloss. Die träumerisch-flüchtigen, von Gedichten Van Lerberghes inspirierten Frauenbilder von «Le Jardin clos» grenzen in ihrer melodischen wie pianistischen Auszehrung oft schon an einen Nullpunkt der Musik. Im Quasi-Parlando-Stil der «Mirages» fallen prosodische Genauigkeit und syllabische Deklamation als «belebte, psalmodische Rezitation» (Nectoux) fast in eins, finden im Schlusslied («Danseuse»), das von einer besessenen Tänzerin handelt, im insistierend repetierten Rhythmus der Klavierbegleitung zugleich aber zu einer magischen Überhöhung, die berückt. Diese trunkene, gleichsam entmaterialisierte Nüchternheit – Paul Dukas hat sie mit dem unübersetzbaren Begriff déphosphaté charakterisiert – findet sich auch in den vier Liedern wieder, die Fauré 1921 auf Verse des gleich zu Beginn des Ersten Weltkriegs gefallenen jungen Dichters Jean de la Ville de Mirmont (1886–1914) schrieb. Hier bricht, in der Anrufung der ausfahrenden Schiffe, ein letztes Mal die expressive Leidenschaft des unstillbaren Verlangens im Bild des verlockenden Meeres auf: «Ich gehöre zu denen, deren Wünsche auf dem Festland sind. / Der Wind, der euch benebelt, füllt mein Herz mit Entsetzen, / Aber euer Ruf, in der Tiefe der Abende, macht mich trostlos, / Denn ich habe ungestillte große Aufbrüche in mir.» Für diese letzten Lieder fand Fauré, der einmal schrieb, es seien halbprofessionelle Amateure, nicht Opernstars, die ihn am besten verstünden und sängen, in Claire Croiza, Madeleine Grey und Charles Panzéra endlich Interpreten der jungen Generation, die seine Musik mit jener das Intelligible wie Expressive transzendierenden «Rauheit der Stimme» erfassten, von der Roland Barthes schwärmt.

Im Zentrum des schmalen, aber bedeutenden Spätwerks (schmal, weil Fauré während seiner Amtszeit als Direktor des Conservatoire nur in den Sommerferien zum Komponieren kam) stand freilich nicht mehr das Lied, sondern die Instrumentalmusik. Fauré muss ein glänzender Pianist gewesen sein. Das dokumentieren nicht nur die wenigen greifbaren Welte-Mignon-Aufnahmen aus dem Jahr 1913, sondern vor allem die Kompositionen selbst, die die von Chopin übernommenen Modelle des lyrischen Klavierstücks – Nocturne, Barcarolle, Prélude, Impromptu, Valse – mit Liszt’scher Virtuosität anreichern. Das ist allemal glänzende, hinreißende Musik, dabei pianistisch so anspruchsvoll, dass der alte Liszt, als er 1882 die «Ballade» vom Blatt spielte, nach sechs Seiten abbrach und gesagt haben soll: «Mehr Finger habe ich nicht!» Freilich bedurfte es harter, am großen Vorbild Schumann Maß nehmender Arbeit, bis Fauré die Niederungen romantischer Salonmusik hinter sich ließ – etwa im «Thème et Variations» op. 73, die sich durchaus mit Schumanns «Symphonischen Etüden» messen können, in der ergreifenden 11. Nocturne auf den Tod Naomi Lalos, nicht zuletzt den «Neuf Préludes» von 1910, die zeigen, wie meisterlich und doch zugleich poetisch er mit der Kontrapunktik zu spielen verstand. In dieser Terra incognita gibt es noch viel zu entdecken. Dennoch kann er sich weder mit der Radikalität des Klaviermagiers Debussy noch mit der artistischen Perfektion seines Schülers Ravel messen.

Anders sieht es im Bereich der Kammermusik aus, wo er mit großer Beharrlichkeit früh seinen eigenen Weg suchte. Schon die 1. Violinsonate (1875) und das 1. Klavierquartett (1880) sind Meisterwerke in ihrer Auseinandersetzung mit den Vorbildern der deutschen Klassik und Romantik. Erst recht gilt dies für die beiden späten Cellosonaten, das Klaviertrio oder das 2. Klavierquintett, in denen Fauré, frei von allen Stil- und Schulbegriffen, an den jüngeren Zeitgenossen vorbei zu einem neuen Klassizismus findet. Es ist dies Frankreichs bedeutendster Beitrag zur Kammermusik. Durchsichtige Klarheit des Satzes und kantable Linearität der Stimmführung verbinden sich mit einem gleichsam weltenthobenen Ausdruck wissender Grazie, die an die Zurückhaltung und Reserviertheit des späten Brahms erinnert. Das Rondo-Finale des wenige Wochen vor seinem Tod abgeschlossenen einzigen Streichquartetts gar endet mit einem heiteren Lächeln. Züge seiner Person wie der Wirkung seiner Musik sind in die Gestalt des fiktiven Komponisten Vinteuil in Marcel Prousts Roman-Universum «À la recherche du temps perdu» eingegangen.

Weniger Glück hatte Fauré mit dem damals in Frankreich ganz im Bann Wagners stehenden Musiktheater. Keineswegs ging er dem deutschen Gesamtkunstwerker aus dem Weg, reiste wie seine jüngeren Zeitgenossen vielmehr mehrfach zu Aufführungen nach München, besuchte zweimal Bayreuth, hielt Wagners Musik -drama aber für kein nachahmenswertes Vorbild: «Gelungenes und Lehren lassen sich daraus allerdings grundsätzlich ableiten.» Fauré begnügte sich mit Bühnenmusik – darunter 1898 zu Maurice Maeterlincks «Pellé-as et Mélisande» –, dem, wie er einmal an Saint-Saëns schreibt, «einzigen Genre, das meinen geringen Möglichkeiten annähernd entspricht». Eine Synthese aus Oper und Schauspiel mit ihrem Wechsel von bruchstückhafter Musik und langen, gesprochenen Textpassagen, Chören und 450 Instrumentalisten stellt auch die 1900 für die Arena von Béziers entstandene Tragödie «Prométhée» dar. Die künstlerische Wirkung dieses Freilichtspektakels, zu dem sich für zwei Vorstellungen 17 000 Zuschauer einfanden, ist schwer abzuschätzen.

Der Antike blieb Fauré auch mit dem Sujet seiner einzigen, 1913 in Monte Carlo uraufgeführten Oper «Pénélope» treu, dem umfangreichsten, anspruchsvollsten Werk aus seiner Feder, das auf der heutigen Bühne allerdings nur ein Schattendasein führt. Es ist, darauf deutet schon die Gattungsbezeichnung Poème lyrique hin, ein Werk in der Tradition des von Lully begründeten französischen Musiktheaters. Wie vielfach bei Lully und fast stets bei Gluck steht auch hier eine (mythische) Frauengestalt im Zentrum der Handlung: Pénélope, die 20 Jahre auf die Rückkehr ihres Gatten Ulysse aus dem Trojanischen Krieg wartet und sich dabei der Zudringlichkeiten zahlreicher Freier erwehren muss. Anders als Debussy mit Maeterlincks «Pelléas et Mé-lisande» (1902) und Paul Dukas mit dessen «Ariane et Barbe-Bleue» (1907) vertont Fauré keine Dichtung, sondern ein traditionelles, auf Homers «Odyssee» beruhendes Libretto – musikalisch ohne jedes Zugeständnis an die Moden und Neuerungen der Zeit und doch in deutlicher Anlehnung an Wagners System – «es gibt im Moment kein besseres», notiert er zu Beginn der Arbeit an diesem Stoff. Prägnante, klar fassbare, bereits im Prélude vorgestellte Leitmotive für Pénélope, Ulysse und die Freier bestimmen die Form – Pénélopes herbes Schmerzensmotiv mit doppelt punktierten Bassschritten, Ulysses sich aufreckendes Herrschermotiv mit Oktav- und Nonensprüngen sowie heftigen Triolen, das der Freier im harschen d-Moll. Fauré verwendet sie nicht als akustische Masken, sondern verarbeitet sie wie Themen eines Instrumentalstücks (und überdies stark kontrapunktisch), sodass ein Gewebe entsteht, das weniger das ohnehin stark reduzierte äußere Geschehen als das innere Drama zum Ausdruck bringt. Pénélope wie Ulysse, dem Hirten Eumée und der Dienerin Euryclée, ja selbst den Freiern Antinoüs und Eurymaque gibt er musikalisch individuelle Züge: «Ich habe mich schlicht von der einfachen Natur der Handlung und der Würde der Personen leiten lassen.»

Vokal unterscheidet sich «Pénélope», wie bei dem Lyriker Fauré nicht anders zu erwarten, deutlich von allen Spielarten des genuin französischen wagnérisme, als eine Art Lied-Oper aber auch von Debussys «Pelléas», zu dem sie schon dem Geist nach wie ein bewusst intendiertes Gegenstück wirkt. Fauré greift weder zur klassischen Arienform noch zu Wagners «unendlicher Melodie», sondern verbindet emotionale Ausbrüche mit rezitativischen und ariosen Passagen zu einem dichtgewebten Gesangsfluss. Pénélope ist in allem das Gegenbild Mélisandes, ihre aus Bestimmtheit wie träumerischem Wesen gewirkte Schwermut ein Inbild der Hoffnung im Gegensatz zum geheimnisvoll abgründigen Schweigen Mélisandes. Fauré hat ihre Gestalt, ihr Wesen, ihre seelische Belastung in immer neuen Stimmungslagen mit subtilster musikalischer Psychologie gezeichnet – von der real unerklärlichen inneren Überzeugung einer Heimkehr ihres Gatten bis zur visionären Beklemmung in einem plötzlich auftretenden Sturm, die sie im dritten Akt angesichts des bevorstehenden Probeschießens erfasst. Am Ende steht mit dem ungetrübten Glück in festlich-strahlendem C-Dur, wie in fast allen französischen Opern Glucks, aber im Kontrast zu «Pelléas et Mélisande», Verheißung und nicht Untergang, Beruhigung und nicht Trauer – freilich um den Preis, dass dieser Schluss theatralisch konventionell und damit musikalisch blass ausfällt.

Innerer Höhepunkt der Oper ist der Mittelakt. In der Nacht besteigt Pé-nélope, begleitet von dem als Bettler verkleidet heimgekehrten Ulysse, einen über dem Meer liegenden Hügel. «Die Situation», so Fauré in einem Brief an seine Frau vom 4. August 1911, «mag zwar dramaturgisch bedingt sein, sie bleibt jedoch vollkommen unglaubwürdig: Eine Frau singt zu ihrem eigenen Ehemann, erkennt ihn jedoch nicht wieder, da er einen falschen Bart trägt. Und ich muss mich dazu zwingen, mich selbst davon zu überzeugen, damit es in der Musik wirkt». Das nächtliche Duett, in dem der Unerkannte Péné-lope den Rat gibt, am nächsten Tag denjenigen Freier als Gatten zu akzeptieren, der den Bogen ihres Mannes spannen könne, ist gewiss eines der seltsamsten und doch zugleich ergreifendsten Liebesduette der gesamten Opernliteratur. Gabriel Fauré imaginiert eine Stimmung, die nicht erotisch schwül, sondern in ihrer von Pénélopes Liebesmotiv getragenen visionären Verhaltenheit – wie der gesamte Akt – licht und zart wirkt. Das Siegel auf dieses vielleicht schönste Nocturne seines Œuvres setzt neben der ergreifenden Klage Eumées die meisterhaft ausponderierte Instrumentierung mit ihren gedämpften Pastellfarben der Streicher und Holzbläser. Der Erfolg der Pariser Premiere, wenige Wochen nach der Uraufführung, ging am greisen, schwerhörigen Fauré vorbei: «Außer in meinem Kopf hörte ich nirgendwo eine einzige gespielte Note der Pénélope.»

Dieses «Meisterwerk reiner Musik» (Nectoux) war der letzte Abgesang auf die klassische französische Oper – ein Solitär wie so vieles im Schaffen dieses selbstbewusst-bescheidenen Komponisten, mit dem eine Epoche zu Ende ging. «Wie einem Wanderer», so Vladimir Jankélévitch in poetischer Dringlichkeit, «der die Berghänge von Faurés okzitanischer Heimat erklimmt und die Aussicht bewundert, die sich seinen entzückten Augen bietet, erscheint uns sein Werk: Linien von Bergkämmen, die sich kreuzen und auseinanderlaufen, majestätische Gipfel, das Gefühl von stillstehender Zeit, die Reinheit und Kargheit der Luft, irisierende Lichter» – Worte, denen nichts hinzuzufügen bleibt.


Opernwelt Jahrbuch 2024
Rubrik: 100. Todestag Gabriel Faurè, Seite 130
von Uwe Schweikert

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