Künsteln und schwärmen
Die Lieder Ludwig van Beethovens, immerhin knapp 90, haben in seinem Œuvre nicht den gleichen Stellenwert wie die Symphonien, die Sonaten oder die Streichquartette. Viele von ihnen sind Juvenilia, nur wenige zentral für seine Musiksprache. Nach Dietrich Fischer-Dieskau, Hermann Prey, Nicolai Gedda und Peter Schreier haben sich nur wenige Sänger für sie eingesetzt – und wenn, dann meist nur für den Zyklus «An die ferne Geliebte».
Die sechs übergangslos verknüpften Piècen, der «erste geschichtsmächtige Liederzyklus der Musikgeschichte» (so Hans-Joachim Hinrichsen in seinem wegweisenden neuen Beethoven-Buch), stehen am Anfang und am Ende der Recitals, die Ian Bostridge (mit Antonio Pappano) und Matthias Goerne (mit Jan Lisiecki) zum Beethoven-Jubiläums-Jahr vorlegen.
Der Brite wird seinem Ruf des Feingeistes vollauf gerecht, wenn er schon in der ersten Phrase von «Auf dem Hügel sitz ich spähend» das Partizip «spähend» überartikuliert, als müsse er mit dem Zeigefinger auf den Späher zeigen. Durch diese phonetische Dramatisierung überlädt er den Sinn der Phrase und macht genau das, was Roland Barthes als «pléonasme d’intentions» bezeichnet hat. Gemeint ist eine Künstelei des ...
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Opernwelt Mai 2020
Rubrik: Hören, Sehen, Lesen, Seite 32
von Jürgen Kesting
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