Editorial Opernwelt 7/25

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Man schreibt das Jahr 1897, da erscheint im damals noch offiziell zaristischen Russland ein Büchlein mit dem vielsagenden Titel «Was ist Kunst?». Der Verfasser, ein frommer, gottesfürchtiger Mann, ist längst eine lebende Legende, jedes Kind kennt seine Romane «Krieg und Frieden» und «Anna Karenina». Nun aber geht Lew Tolstoi daran, seinem Hass auf die westliche, seiner Ansicht nach verrohte Moderne wortmächtig Ausdruck zu verleihen.

Baudelaire, Mallarmé und Verlaine erwähnt er nur, um sie dann mit dem scharfen Kommentar «Das verstehe ich überhaupt nicht» abzukanzeln; die Gemälde der französischen Impressionisten empfindet er als Schmierereien. Und die Musik von Brahms, Berlioz, Liszt und vor allem Wagner, dessen Opern er von seinem Besuch der ersten Bayreuther Festspiele 1876 kannte, ist ihm kaum mehr als lästiger Lärm.

Horcht man hinein in diese Klang-Welt, wird Tolstois Irrtum evident, vor allem, wenn man auf Richard, den Großen blickt. Seine Opern – vor allem «Der Ring des Nibelungen», «Tristan und Isolde», «Tannhäuser» und der «Fliegende Holländer» – stehen in der Gunst des Publikums nach wie vor ganz weit oben; es genügt, das hinreichend zu belegen, ein Blick in die aktuelle Ausgabe der «Opernwelt». Und welcher Intendant (Frauen in der gleichen Position halten sich diesbezüglich vornehm zurück) steht nicht mit stolzgeschwelltem Busen vor dem Spiegel, wenn gerade ein «Ring» in seinem Haus gefertigt wird. Allein in der jüngeren Vergangenheit gab es die Tetralogie im Dutzend, von Basel, Bern, (zwei Mal) Berlin über Dortmund, Klagenfurt, Kassel und Oldenburg bis nach Saarbrücken, Stuttgart und Zürich: London und Paris schleifen gerade daran, die Osterfestspiele Salzburg, München, Prag und Oslo ziehen demnächst nach.

Womit wir zurück in Bayreuth wären. Und schon mittendrin in einer traurig-tristen Novelle. Denn man muss schon ziemlich lange zurückschauen, bis man in der Festspielgeschichte auf eine «Ring»-Produktion von exzeptioneller Güte stößt: 1988 nahm sich Harry Kupfer des Vierteilers mit großem Sachverstand an. Eine Revolution löste seine handwerklich mustergültige Inszenierung zwar nicht aus, aber sie griff den Stoff immerhin beim Schopfe. Alfred Kirchner strebte mit seiner «Ring»-Deutung ab 1994 in die Richtung des metaphysischen Designs, Jürgen Flimm schlüpfte zur Jahrtausendwende in die Rolle des politisch wachen Interpreten, Tankred Dorst erzählte 2006 ein Märchen. Und Frank Castorf gab den schnoddrigen Agent provocateur – was leider dazu führte, dass viele die dialektische Dimension seiner Arbeit gar nicht erst zu begreifen suchten. Alles wäre (vermutlich) gut geworden, hätte sich danach Tatjana Gürbaca, wie geplant, auf die «Ring»-Suche begeben. Doch die Verhältnisse, sie waren nicht danach – Festspielchefin Katharina Wagner musste nach Gürbacas verständlicher Absage wegen unzureichender Probenzeiten eine Ersatzlösung aus dem Hut zaubern. Sie verzauberte sich kolossal – weswegen es seit 2022 nur einen neonleuchtend-nihilistischen Nasen-«Ring» für Netflix-Nerds gibt, der auch nicht im Entferntesten das nötige ästhetische Niveau besitzt, um ernsthaft diskutiert zu werden. Und was geschieht in diesem Juli? Gibt es auf dem Hügel zumindest einen kurzen Sommer der Anarchie? I wo! Es droht prädisponierte Langeweile – in Form einer Wiederaufnahme der gruseligen «Lohengrin»-Inszenierung von Yuval Sharon mit dem alternden Messias Thielemann am Pult. Ein Knaller wird das kaum werden, zumal die Vokalbesetzungen in Bayreuth schon seit Jahren in Richtung Euro-League tendieren; die Champions League singt und spielt, für mehr Geld, woanders. Auch die einzige (!) große Premiere (dazu gibt es einen «Tannhäuser» für Kinder) verspricht kein Wunderwerk zu werden: Der «Meistersinger»-Regisseur ist nicht als Bilderstürmer bekannt – und der Dirigent höchstens als ein Patriarch, der sich, so zumindest raunen es die Spatzen von den Dächern, mehr für Frauen im Orchester als für innovative Regiekonzepte interessiert.

Das war’s? Das war’s! Und schreit förmlich nach der Frage aller Fragen: Wozu gibt es ein Festival, wenn es nicht in die Diskurs-Pötte kommt? Selbst Salzburg geriert sich dagegen nachgerade geistvoll-revolutionär, von Aix-en-Provence mal ganz zu schweigen, wo seit Jahren ein anregendes, vitales und spannungsreiches Programm serviert wird und man tatsächlich den Eindruck gewinnen kann, bei einem «Festival» zu sein und nicht auf einer bürgerlichen Repräsentations-Veranstaltung mit ein bisschen mystischem Abgrund drumherum. Kein Wunder, dass man in diesem Jahr problemlos Karten für Bayreuth kriegt. Aber im Ernst sollte Festspielchefin Katharina Wagner noch einmal grundlegend darüber nachdenken, warum das Interesse allmählich erlahmt. Wir versuchen es mit einem vorsichtigen Vorstoß: Baut das Museum um zu einer Künstlerwerkstatt, wo Musik(theater) gleichsam als existenzielle Erfahrung spürbar werden könnte. So, wie es gerade anmutet, schläft Bayreuth ein, wie Erda. Und kein Wotan, der die Weltmüde wecken würde. Wie heißt es am Ende vom «Rheingold»: Ihrem Ende eilen sie (die Götter) zu, die so stark im Bestehen sich wähnen.» Loges Sentenz sollte als Warnung genügen.


Opernwelt Juli 2025
Rubrik: Editorial, Seite 1
von Jürgen Otten

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