Dienen sollst du, dienen
Es ist nur ein «Schattenbild». Doch ein vielsagend-mehrdeutiges. Es zeigt den Dirigenten (nicht den Komponisten) Gustav Mahler, in vielen verschiedenen Posen und Positionen, bei seiner «Arbeit»; mal wild fuchtelnd, mal herrisch gebietend; mal mahnend, mal insistierend; mal drängend, mal distanzierend. Man kommt nicht umhin, in dieser liebevollen, posthum erstellten Mahler-Karikatur von Otto Böhler aus dem Jahr 1914 das gezeichnete Psychogramm eines Taktgebers von nachgerade Canetti’schen Ausmaßen zu erkennen.
Sie findet sich in einem Buch, das schon bei seinem ersten Erscheinen 1979 für Furore sorgte, und das mit gutem Grund: Sein Verfasser Hans Swarowsky zählte nicht nur zu den schillerndsten Figuren in der Dirigenten-Szene, er galt zudem als Königsmacher. Unzählige Taktstock-Talente pilgerten zu ihm nach Wien, um in der geheiligten Kunst unterwiesen zu werden; es genügt vielleicht, die Namen von Zubin Mehta, Giuseppe Sinopoli, Claudio Abbado und Mariss Jansons zu nennen, um zu ermessen, wie immens Einfluss und Wirkung dieses gestrengen, ebenso musikhistorisch wie kunstgeschichtlich und philosophisch beschlagenen «Pädagogen» waren. Ja, selbst Dirigenten vom Schlage des im Herbst verstorbenen Christoph von Dohnányi, die nie seine Schüler waren, hielten Swarowsky für einen der bedeutsamsten «Lehrer». Und nicht zuletzt einer Initiative von Dohnányi verdankt sich die stark erweiterte, feingeschliffene, in Teilen revidierte Neuauflage von Swarowskys Essaysammlung «Wahrung der Gestalt» durch den Herausgeber Manfred Huss. Für Interpreten ist sie ein «Muss».
Der Strauss-Bewunderer Swarowsky hat nie einen Hehl aus seiner Abneigung gegen jede kultische Verehrung des Berufs (und mehr noch: derer, die ihn ausüben) gemacht. Für ihn war ein Dirigent zeitlebens in erster Linie Dienender. Genie, auch im Sinne Kants, mochte wohl jemand wie Mozart oder Beethoven, Wagner oder Verdi, Puccini oder Schönberg besitzen, nicht aber derjenige, der ihre Werke verklanglichte. Schon allein das Wort «Interpretation» besaß für Swarowsky einen beinahe faden Beigeschmack: «Der Interpret muss nur lesen können, das heißt, seine auf sein Wissen und seine Bildung gegründete kombinatorische Gabe richtig anwenden», lautete sein trockenes Postulat: Jede Form von Anbetung für einen Dirigenten sei schädlich; für den Strauss-Adepten, der sich nicht als Nachschöpfer begriff, sondern als ein «Diener des Schöpfers», waren solche «Künstler» nicht mehr als «Larven mit geschickten Händen, dehnbaren Stimmbändern, biegsamer Rückansicht und ornamentalen Armen», die jede dringend notwendige Klarsicht auf die Schöpfung selbst verstellten. Sein Ideal -bild des Dirigenten sah anders aus, es enthielt vier wesentliche Eigenschaften:
«Künstlertum» (im Sinne eines Verständnisses dessen, was auf dem Notenpult liegt), «Kunstfertigkeit» (verstanden als die Fähigkeit, Form, Stil und Gedanke einer Partitur zu erkennen), «Kraft der formalen Disposition» (die Fähigkeit, sämtliche Strukturmerkmale des jeweiligen Werks zu entschlüsseln) sowie «Überzeugungskraft», womit er die Verlebendigung dessen, was der «Meister» gemeint haben könnte, gleichsetzte, die Übertragung jener musikalischen Wahrheit, wie sie sich, von Hegels Gnaden, in jedem echten Kunstwerk entfaltet.
Am Anfang allen Tuns stand für Swarowsky indes nicht die philosophische Überhöhung, sondern allein das richtige Tempo – als eine «geistige Tatsache». Das Tempo sei, so heißt es in einem entsprechend über -titelten Essay, «die conditio sine qua non der Form und ein Element unbedingter Geistigkeit vor jedem realen Erklingen eines Werkes»; es ergebe sich «aus der wahrhaft gegründeten Einsicht in den Charakter» dieses Werkes und sei «keineswegs von den so oft apostrophierten Lappalien wie der Größe eines Vorführungsraumes und des ausführenden Ensembles oder gar vom Pulsschlag und sonstigen Persönlichkeitswerten des jeweiligen ‹Interpreten› abhängig». Ausdruck gewinne eine Wiedergabe nicht durch verbrauchte Gesten, sondern durch formale Bewältigung. Darauf erst gründet für Swarowsky die nötige gestalterische Freiheit: «Frei gestalten kann nur ein Musiker, der bewusst überlegen im Vollbewusstsein der streng gebundenen Form agiert.»
Dieses dialektische Grundprinzip zieht sich wie ein roter Faden durch alle in dem Buch enthaltenen Aufsätze und (zum Teil brillanten) Werkanalysen. Deutlich kristallisiert sich dabei auch die Verehrung des Dirigenten für die Werke der «Klassik» (verstanden als Gipfel der «Formen») heraus. Haydn ist für ihn der Vater aller Dinge, Mozart gleichsam gottgleich (und nach Monteverdi der Schöpfer himmlischer Opern), Beethoven ein Revolutionär, ohne den die Romantik so nicht denkbar gewesen wäre, Strauss, Bruckner und Mahler gelten ihm als wahren Erben des mozartischen Genius, Schönberg als ein später Gipfel. Dessen symphonische Dichtung «Pelléas et Mélisande» etwa erscheint ihm weit bedeutender als jener «Ästhetizismus», der in Debussys gleichnamigem Musiktheater vorherrsche. Auch was das Verhältnis von Wort und Ton angeht, hält Swarowsky mit seiner Überzeugung nicht hinter dem Berg. Für ihn gilt generell das Prinzip prima la musica, poi le parole. Diesbezüglich hält er es mit seinem Götterliebling – und zitiert genussvoll jenen Brief, den Mozart zwei Jahre nach der Uraufführung des «Idomeneo» an seinen Vater schreibt: «die Musique ist also die Haubtsache bey jeder opera.»
HANS SWAROWSKY: WAHRUNG DER GESTALT
Ästhetik der Interpretation – Kunst des Dirigierens
Universal Edition, Wien 2025. 704 Seiten; 59,95 Euro
Opernwelt Dezember 2025
Rubrik: Medien, Seite 39
von Jan Verheyen
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