Das Leid mit dem Lied

«Sind noch Lieder zu singen?» Unter dieser Leitfrage stand das letzte Festival der Internationalen Hugo-Wolf-Akademie für Gesang, Dichtung und Liedkunst. Unter Komponisten und Sängern genießt das Kunstlied nach wie vor höchstes Ansehen, in Stuttgart standen u. a. zehn Uraufführungen auf dem Programm. Die Schubertiade in Schwarzenberg und Hohenems geht in die 40. Saison. Um die Liederabende in der Londoner Wigmore Hall muss man nicht fürchten. Und doch droht das Lied zu verkümmern, meint der Pianist, Liedbegleiter und «Liederfinder» MICHAEL GEES. Weil es den Kontakt mit dem Leben verloren hat, nur noch in künstlich bewässerten Nischen blüht. Weil wir das Singen verlernt, es den Profis und einer schwindenden Schar von Liebhabern überlassen haben. Höchste Zeit, das Lied zu befreien, neue Brücken zu bauen zu einem Genre, dessen schöpferisches Potenzial nie erschöpft sein wird. Wie das gehen könnte? In dem folgenden Impromptu offenbart Michael Gees seinen persönlichen Traum einer Liedkultur der Zukunft

Opernwelt - Logo

Das Lied leidet. Das ist nicht schlimm. Oder jedenfalls schadet es ihm nichts. Von Anbeginn war das Lied ein Zufluchtsort fürs Leid. Schlimm ist, dass sich kaum noch jemand fürs Lied interessiert. Vielleicht, weil sich kaum noch jemand fürs Leid interessiert. Nur, warum sind dann gefühlte 99 Prozent der sogenannten Pop-Musik gesungene, oft liedhafte Musik, warum singt zum Beispiel Gordon Matthew Thomas Sumner (Sting) ebenso berufen wie profitabel nicht nur, aber doch auch vom Leid? Was machen wir falsch? Schuberts Lieder sind ja nicht schlechter... Nur eben denkmalgeschützt.

Das (Kunst-)Lied steht vor dem Totalverlust seiner lebenswirklichen Relevanz. Wir sind dem Lied abhanden gekommen. Uns ist es nice to have, ihm sind wir gestorben. Wollen wir es wiedergewinnen und uns für seine Botschaft neu interessieren? Dann sollten wir aus dem Traum von Funktionalität und Machbarkeit recht bald erwachen, uns neu erfinden und wachsen – am Leid wie am Lied. Damit unser Leben uns zum Lied werden kann, so herzlich und aufrichtig.

Dann werden Sängerinnen und Sänger uns nicht länger glauben machen wollen, sie erlebten und fühlten Gretchens düsteres Entzücken oder das schmerzliche Unvermögen des ...

Weiterlesen mit dem digitalen Monats-Abo

Sie sind bereits Abonnent von Opernwelt? Loggen Sie sich hier ein
  • Alle Opernwelt-Artikel online lesen
  • Zugang zur Opernwelt-App und zum ePaper
  • Lesegenuss auf allen Endgeräten
  • Zugang zum Onlinearchiv von Opernwelt

Sie können alle Vorteile des Abos
sofort nutzen

Digital-Abo testen

Opernwelt April 2015
Rubrik: Impromptu, Seite 46
von Michael Gees

Weitere Beiträge
Jahrhundertwendelieder

Anke Vondung, seit Langem Gast auf den großen Bühnen der Welt, legt nach einer Reihe von Produktionen, in denen sie sich im Ensembleverbund mit anderen Sängern präsentierte, ihre erste Solo-CD vor. Ihr inspirierender Partner am Klavier ist der österreichische Pianist Christoph Berner, dem gemeinsam mit dem Tenor Werner Güra einige der eindrucksvollsten...

Es ist serviert

Drei abgehackte Köpfe, damit haben wir gerechnet, summa summarum. Wer auszieht zu dreimal «Salome», muss sich schließlich auf eine gewisse Anzahl Kunststoffleichenteile gefasst machen. Aber es werden fünf. Und drei davon gehören nicht Jochanaan.

An Coburg liegt es nicht. Hier wird solide am Libretto entlang erzählt, und auf dem Höhepunkt gibt’s Jochanaans bleiches...

Editorial

Politisches Musiktheater – was heißt das heute? Mit welchen Mitteln müssten, sollten, könnten Komponisten und Interpreten arbeiten, um aufzurütteln, Geist und Sinne zu sensibilisieren für das wunde Wunder unserer Welt? Gewiss, Oper war schon immer politisch: Macht und Revolte, die Dialektik von Herr und Knecht, die Utopie eines erfüllten, von aller Not befreiten...