Schleuser Godot
Große Kunstwerke, meint der amerikanische Literaturwissenschafter Stephen Greenblatt, sind große Speicher «sozialer Energie». Mögen sie auch nach dem Ewigmenschlichen lugen und weitestmöglich die Spuren des Stofflichen an sich tilgen, so entstamme ihre tiefere Kraft doch den kollektiven historischen Erfahrungen, die man durch sie hindurch ersehen könne.
Wie ein Lehrbeispiel zu diesem Satz mutet die Beckett-Re-Lektüre an, mit der der französische Gymnasiallehrer Valentin Temkine vor gut einem Jahr auftrat.
«Warten auf Godot», so Temkines verblüffende Botschaft, spiele keineswegs im Nirwana des Absurden und der existenzialistischen Philosophie, sondern ganz konkret um 1943 im besetzten Frankreich. Die beiden als Juden anzusehenden Protagonisten warteten hier auf einen Schleuser namens Godot, der sie außer Landes schaffen solle. Pozzo begegne ihnen als Opportunist, der anscheinend mit der Besatzung kooperiert. Seine Erblindung im zweiten Akt? Ergebnis einer Attacke durch die Résistance.
Akribisch rekonstruiert Temkine die historischen und biographischen Bezüge, die «Warten auf Godot» als Zeugnis der Judenverfolgung lesen lassen. Beckett selbst hatte diese Bezüge bis zur Uraufführung ...
Weiterlesen mit dem digitalen Monats-Abo
Sie sind bereits Abonnent von Theater heute? Loggen Sie sich hier ein

- Alle Theater-heute-Artikel online lesen
- Zugang zur Theater-heute-App und zum ePaper
- Lesegenuss auf allen Endgeräten
- Zugang zum Onlinearchiv von Theater heute
Sie können alle Vorteile des Abos
sofort nutzen
In Shakespeares «Sommernachtstraum» wird Zettel als lächerliche Figur eingeführt, weil er alle Rollen des Stücks im Stück spielen will: Pyramus, Thisbe, den Löwen, und man darf vermuten: eigentlich auch die Wand und das Mondlicht. Im echten Theaterleben steht solcher Übereifer dagegen unter dem Verdacht, die hohe Schule des Virtuosentums auszumachen. Wenn etwa ein...
Ob sich die Finanzkrise und ihre Ursachen überhaupt fürs Drama eignen – oder mit Elfriede Jelineks Krisenredewirbel «Die Kontrakte des Kaufmanns» nicht längst mehr als alles gesagt ist – sind berechtigte Fragen. Auf jeden Fall aber bleiben die Folgen der Krise ein Thema fürs Theater. Theresia Walser interessiert sich jedenfalls nicht für ökonomische Theorie oder...
Einen «Versuch, an bahnbrechendem Theater zu scheitern. Mit Pina Arcade Smith» nennt der Tänzer Antony Rizzi seine eben im Frankfurter Mousonturm uraufgeführte Performance. Rizzi hat beinahe zwanzig Jahre mit William Forsythe gearbeitet und als Ballettmeister wiederholt in Wuppertal gastiert. Der Italiener aus Boston schreibt seit einigen Jahren seine eigenen...