Der neue Pragmatismus

Die Zeiten ändern sich an den Theatern. Was gestern noch verpönt war, ist die neue Realität. Ein Gespräch mit den zukünftigen Intendant:innen in Hamburg, Hannover und Köln – Sonja Anders, Vasco Boenisch und Kay Voges

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Theater heute Kürzlich hat die Schauspielerin Ursina Lardi in ihrer Dankesrede für den Silbernen Löwen in Venedig gesagt, man spreche immer weniger und nur noch mit Mühe vom Theater: «Das Theater, die Kunst erfahren gerade einen großen Bedeutungsverlust, und dabei geht es nicht allein um Kürzungen, nicht nur Geld wird der Kultur, den Kulturschaffenden entzogen, sondern Respekt und Achtung. Wir werden lächerlich gemacht, für nutzlos, überflüssig und harmlos erklärt, mich persönlich kränkt das mehr als es Zensur und Druck tun könnten.

» Das klingt besorgniserregend – teilen Sie diese Beobachtung? 
Sonja Anders Ich denke, dass Ursina Lardi die Berliner Verhältnisse anspricht, und die Missachtung der Berliner Künstler:innen ist ja wirklich immens. Ich kann das hier für Hannover nicht unterschreiben. Der Dialog zwischen Ministerium und Theater ist zwar nicht ausgeprägt, aber es steht außer Frage, dass die Staatstheater für Niedersachsen elementar sind. In Hamburg, wohin ich zur nächsten Spielzeit wechsle, ist die Lage an Berlin gemessen deutlich wertschätzender. Das liegt am Engagement der Kulturbehörde, aber auch an der breiten Stadtgesellschaft, die sich im Theater versammelt. 
Vasco Boenisch Ich beobachte zweierlei. Es gibt Politiker:innen in Niedersachsen, die, wie Sonja sagt, an unserer Seite stehen und ernsthaft unseren Betrieb verstehen wollen. Wir hören aber auch genau hin, wer in Reden überhaupt das Wort Kultur erwähnt – und das fehlt oft tatsächlich. Gleichzeitig mache ich gerade viele Hausbesuche in Hannover und in der Region und stoße dabei auf sehr unterschiedliche Gruppen – pensionierte Lehrer:innen, Studierende, Leute, die Laientheater in der Dorfscheune machen. Und überall spüre ich genau das Gegenteil, nämlich Offenheit und Interesse, auch eine Relevanz von Theater, verschiedene Bedürfnisse, die Theater erfüllen soll. Deswegen würde ich sagen, es gibt beides – und Letzteres motiviert natürlich umso mehr. 

TH Wie sieht es in Wien bzw. in Köln aus? 
Kay Voges Ich kann diesen Eindruck nicht ganz teilen. Es wird gerade heftig gestritten um die Bedeutung von Kultur. Wir befinden uns in einem Kulturkampf; das kommt aus Amerika, ob es dort die Demokraten und die Republikaner sind oder hier der rechte konservative Wirtschaftsflügel oder die AfD und die linkere Ecke. Wie wollen wir erzählen von der Gesellschaft, in der wir leben? Und wer soll das Geld dafür kriegen? Da wird es gerade schwierig, wie man an der CDU/SPD-Regierung in Berlin sehen kann. In Wien, als die FPÖ die meisten Stimmen bekommen hat, standen wir am Volkstheater für einen Moment unter Schock, weil wir befürchtet haben, dass wir, die wir uns sehr laut gegen sie gestellt haben, 50 Prozent unserer Förderung gestrichen bekommen. Wir sagen, wir wollen Meinungsfreiheit, künstlerische Freiheit, Vielfalt – und die sagen, ihr seid eine linke, woke Bubble, in die ihr euch zurückzieht, ihr gefährdet die Demokratie. Da läuft’s dann gegeneinander. Die Frage ist, wie lange schaffen wir es als Gesellschaft noch, unsere demokratisch freie Ordnung aufrechtzuerhalten? 

TH Wenn wir den Vorwurf mal mitreflektieren: Wie bubbelig ist das Theater denn wirklich? 
Boenisch Noch mal die Hausbesuche: Ich kann das nur empfehlen, um mal effektiv raus aus der eigenen Bubble zu kommen. Wenn ich bei Menschen im Wohnzimmer sitze und direkt vermitteln muss, warum Stück A oder Inszenierung B ein lohnendes Erlebnis für sie sein werden, ist das ein sehr guter Reality-Check. Wie treffen sich komplexe Spielplankonzepte mit ganz konkreten Wünschen von Menschen? Man muss diesen Austausch mit dem «echten Leben» natürlich auch glaubwürdig wollen.
Voges Ich plädiere immer dafür, mehr Leute mit einzubeziehen. Relevanz erlangen wir nicht, indem wir nur die schon ähnlich Denkenden ansprechen. Wie öffnen wir uns? Wie bringen wir Diskurse in die Gesellschaft? Über Inhalte, über Ästhetiken, die die Bedeutung des Theaters für eine Gesamtgesellschaft klar machen. Diese Herausforderung spüre ich in Köln noch mehr als in Wien, weil Wien über ganz verschiedene Bühnen verfügt, die unterschiedliche Publika erreichen. Neben dem Josefstadttheater, das eine konservativere Zuschauerschaft anspricht, und dem Hochkulturtempel Burgtheater konnte man im Volkstheater laut sein, ein anderes Spektrum präsentieren. In Köln sind wir das Theater für die Stadt, und die Stadt besteht gottseidank in Köln aus sehr progressiven Kräften. Köln ist eine sehr weltoffene Stadt. Und trotzdem gibt’s da auch konservative bis reaktionäre Ecken. Gut wäre, wenn das Theater ein Ort der Begegnung für die Stadt -gesellschaft insgesamt ist, ohne dass sich dort eine Front gegen die andere bildet. 

TH Sonja Anders, auch das Schauspiel Hannover hat solch eine Platzhirschposition. Sie haben gezielt versucht, ein möglichst breites Publikum anzusprechen – hat das geklappt? In welchem Zustand übergeben Sie das Haus?
 Anders Ich finde, dass wir diesen Bubble-Diskurs durchaus führen müssen. Übrigens auch mit der Kritik. Seit Längerem gilt es schon, mit einem Spagat das Haus vollzukriegen und die Kritik trotzdem zufriedenzustellen ... 

TH Sie gucken so vorwurfsvoll! 
Anders Ja, ich schaue besonders auf Franz Wille (lacht). Tatsächlich ist das eine Debatte, die ich auch mit vielen Künstler:innen führe, die gerne verschlüsselte, abgehobene Stoffe inszenieren, die auch ästhetisch sehr spezifisch sind. Im Publikum gibt es durchaus Menschen, die das interessiert, aber ein Gros der Zuschauer:innen möchte sich im Theater nicht dumm vorkommen, sondern vielmehr angesprochen fühlen. Es ist eine Frage der Sprache, der Zeichen, der Codes. Darüber müssen wir sprechen, vor allem mit unseren Regieführenden und Autor:innen. Es gibt Menschen im Publikum, die sogar unseren unterhaltsamen «Faust» nicht einordnen können, weil die ironischen Drehungen und der ernste Diskurs dahinter nicht leicht für sie zu dechiffrieren sind. Und auch an Sivan Ben Yishais «Nora oder wie man das Herrenhaus kompostiert» hast du womöglich weniger Genuss, wenn du dich mit «Nora» und den Diskursen rund um Klassismus und Theater nicht auskennst. Damit müssen wir uns beschäftigen, wenn wir über Klassismus oder Inklusion sprechen. 

TH Ist denn Lukas Rietzschels «Das Leben des Samuel W.» ein so enigmatischer Text? Handelt Maria Milisavljevics «Die Staubfrau» nicht von dringenden Problemen der Gegenwart, Gewalt gegen Frauen? Sind Dea Lohers «Yamamoto»-Szenen verstiegen und undurchdringlich? 
Anders Wir spielen diese Autorinnen ja alle! Doch bei aller nötigen Komplexität gilt es auch, auf das Publikum zu hören und sich zu hinterfragen. 

TH Ist es nicht ohnehin so, dass Inszenierungen verschiedene Einstiegsebenen haben und auch entsprechend unterschiedlich rezipiert werden können? Als Geschichte, die einem zum ersten Mal erzählt wird, in der Interpretation, in der ironischen Ableitung etc. Wenn man zehn Kritiker:innen in dieselbe Aufführung setzt, kriegt man ja auch zehn verschiedene Texte. Und bei hundert Zuschauer:innen in derselben Aufführung ist es vermutlich nicht viel anders.
Boenisch Aber dazu müssten sie überhaupt erstmal ins Theater kommen. Sie müssen ja erstmal die Hemmschwelle überwinden, ihre Zeit und ihr Geld aufzuwenden. 

TH Das meint ja Ursina Lardi: Wenn die Bedeutung geschwunden scheint, warum soll ich da überhaupt noch hingehen?
Anders Ich würde es nicht so negativ bewerten. Ich glaube, dass die Bedeutung des Theaters insofern nachgelassen hat, als sich kaum jemand mehr aus einem bürgerlichen Selbstverständnis heraus mit dem Kanon beschäftigt, auch nicht im Rahmen eines Theaterbesuchs. Trotzdem rennt uns das Publikum bei vielen Stücken die Bude ein. 

TH Zum Beispiel?
 Anders Mareike Fallwickls «Die Wut, die bleibt» haben wir annähernd 50 Mal gespielt – und fast immer ausverkauft. 

TH Das ist die Adaption eines zeitgenössischen feministischen Romans einer bekannten Autorin, also kein Kanonstück. 
Anders Es muss schon «Hamlet» sein, damit der Kanon als Motivation für einen Theaterbesuch greift. Unser «Hamlet» war ein Erfolg, hat aber nicht die Schlagzahl von «Die Wut, die bleibt» erreicht. 
Boenisch Ich gehe ja jetzt seit anderthalb Jahren intensiv hier in Hannover ins Theater, und kann den Eindruck vom hiesigen Publikum bestätigen. Vielleicht ist das auch unterschwellig in unsere Programmüberlegungen eingeflossen. Für alle Produktionen, die wir präsentieren werden, braucht man kein Theaterlexikon. Dabei stehen Künstler:innen wie De Warme Winkel, Toshiki Okada, Falk Richter oder Yael Ronen nicht unter Verdacht, unterkomplexes oder seichtes Theater zu machen. Aber ich glaube, für etliche Leute sind Stücke wie «Don Karlos», «Prinz Friedrich von Homburg», selbst «Hamlet» eine Hemmschwelle, weil es alte Geschichten sind, die man eigentlich aus dem Deutschunterricht kennen müsste, aber schon vergessen hat. Oder weil man in einem anderen Kulturkreis aufgewachsen ist. 

TH Sie kommen gerade als Chefdramaturg vom Schauspiel Bochum, wo es einen siebenstündigen Dostojewski von Johan Simons gab, der dort ziemlich gefeiert wurde.
Boenisch Ja, weil das ein besonderes Ereignis war neben der Inszenierungs- und Schauspielkunst, mit ungewöhnlicher Länge, Gang durchs Backstage und in Verbindung mit dem gemeinsamen Verspeisen eines Drei-Gänge-Menüs mit Borschtsch und Quiche im denkmalgeschützten Foyer. Und wir mussten wegen der speziellen Bühnensituation nur 400, nicht 800 Plätze füllen. Wir müssen nicht das Wort der Eventisierung benutzen – aber Theater als Ereignis, als Erlebnis, das schon. Und es gibt auch tolle Inszenierungen von Johan Simons, die in Bochum nicht das große Publikum gefunden haben – zum Beispiel von den Romanen «Plattform» und «Unterwerfung». 

TH Und woran lag das? 
Boenisch Die Menschen waren abgeschreckt von den Houellebecq-Stoffen, muss man leider sagen. Offenbar wollten sie sich im Theater nicht mit dieser Form von politischer Ausdeutung und expliziter Sexualität beschäftigen. 

TH Ist denn das Wiener Publikum – und da denken wir jetzt ans Volkstheater – eher über möglichst markante bis drastische Regiehandschriften zu erreichen? Mehr über die Art des Erzählens als über die Inhalte? 
Voges Toll war nach vielen Jahren in Dortmund, dass die Zuschauer:innen in Wien zu mir kamen und sagten: «Ich weiß vorher nie, was ich bekomme.» Oder auch: «Das war jetzt heute mal nicht so besonders, Herr Voges. Sonst überraschen Sie mich doch immer.» Da zählt also der Überraschungsfaktor, dass man auf einmal in Welten hineinschaut und etwas erlebt, was den Blick erweitert. Wenn die Leute aus Neugier ins Theater kommen, hat man einiges geschafft. Am Volkstheater ist uns das, glaube ich, in den letzten Spielzeiten auch gelungen. Und klar, es ist ein Event, ein Erlebnis, wenn man plötzlich Dinge kapiert, die man vorher nicht verstanden hat, man Tränen gelacht oder vor Ekel Herpes bekommen hat. Denken Sie an Florentina Holzinger: Das ist Erlebnistheater schlechthin. Da passiert etwas mit den Menschen, sie werden an die Grenzen dessen geführt, was sie sehen können oder fantasieren wollen. Oder wenn bei Markus Öhrn plötzlich Schönheit in Schreckliches oder Humor in Brutalität kippt. Wir wollen auch in Köln eine Kirche des Zweifels sein – Heiner Müller hat gesagt: Theater ist ein Stellplatz der Widersprüche. Statt den Menschen zu erklären, was richtig und falsch ist, wollen wir fragen: Was ist denn da? Lasst es uns jetzt hier gemeinsam herausfinden. Parallel dazu ist Theater ein Ort, der die Gegenwart reflektiert. Mit unserer Säule «Theater und Journalismus» haben wir etwas ins Rollen gebracht, was mich wirklich sehr bewegt: dass Menschen mit einem Mal ins Theater strömen, weil dort Komplexität fassbar wird und man klüger aus dem Theater herausgeht, als man hineingegangen ist. Diese Lesung, die wir gemeinsam mit dem BE gemacht haben – «Geheimplan gegen Deutschland» von Correctiv – haben 1,5 Millionen Menschen gesehen, im Live-Stream, auf den Bühnen und in Mediatheken. 

TH Der Live-Stream lief in über 20 Theatern. 
Voges Da konnte Theater auf einmal etwas erzählen, was zu lesen wir vielleicht nicht die Zeit und Muße hatten, wir konnten im Theaterraum, mit den Bewegtbildern auf YouTube plötzlich leichter verstehen und mehr Konzentration aufbringen als beim gedruckten Text. Ich weiß von vielen Menschen, die auf die Straße gegangen sind, weil sie beim Correctiv-Abend verstanden haben, was Remigration bedeuten würde. Da ist die Relevanz von Theater so hoch wie lange nicht. 

TH Wobei es ja durchaus eine eher trockene Materie war. 
Voges Es ist unsere Profession als Theaterleute, Wege zu finden, Geschichten gut zu erzählen. Wenn wir dann Journalisten an unserer Seite wissen, die für Fakten und Komplexität sorgen, können wir uns austauschen darüber, wie wir die Stoffe auf die Bühne bringen. Deshalb ko -opieren wir die nächsten Jahre dauerhaft mit Correctiv und versuchen, die Krise der Geschichten im Theater und die Krise des Journalismus gemeinsam zu überwinden. Ein Abend wie Calle Fuhrs «Aufstieg und Fall des René Benko» ist eine der großen Erfolgsgeschichten des Volkstheaters geworden, weil die Menschen lustvoll verstanden haben, wie mit den Steuergeldern, die wir hier in Deutschland für den Verkauf von Galeria Kaufhof investiert haben, gespielt worden ist, wie Geldflüsse und Spekulationen laufen. Jeder kennt René Benko, aber keiner kann ganz genau erklären, was eigentlich sein Coup und Verbrechen war. Im Theater konnte man das verstehen und darüber lachen. Wir als Theatermachende können in Zeiten von Krieg und Rechtspopulismus und Wirtschaftskrise unseren Teil dazu beizutragen, Theater als friedenserhaltende Maßnahme zu definieren. Wir sind für die Gesellschaft da, um sie durch Empathie, Aufklärung, Vermittlung von Komplexität friedfertig zu halten. 
Anders Gleichzeitig leben wir in einer ausdifferenzierten Welt. Unser Publikum hat unterschiedliche Geschmäcker und Ansprüche an das Theater. Alleine die Studierenden der Hildesheimer Uni haben ganz andere Erwartungen als die der Uni Hannover. Diese Differenzierungen setzen sich in der Stadt unendlich fort. Um viele anzusprechen, braucht es ein entsprechend buntes Programm, keines des kleinsten Nenners. Ich halte nichts davon, sich auf nur eine Linie zu kaprizieren. Wir werden von rechts attackiert, weil wir die Merkmale einer Polis erfüllen, einer offenen Gesellschaft, die pluralistisch denkt. Bei uns treffen sich die Menschen dieser komplexen Gesellschaft und werden konfrontiert mit sich und den anderen. Theater ist einer der wenigen öffent -lichen Räume, wo man gemeinsam atmet, lacht, weint, wo man sich bestätigt, aber auch infrage stellt – das gibt es so höchsten noch in einigen Kirchen. Hannover ist eine engagierte Stadt und oft etwas schneller als ich. Im Fall der Correcitv-Recherche war es beispielsweise die Bunt-Statt-Braun-Initiative, die auf mich zukam und gefragt hat, ob wir mitmachen. Auf der anderen Seite kann Theater ein superschnelles Medium sein. Wir können den Dialog befördern, deshalb ist Theater für rechte politische Strategen auch gefährlich. Das müssen wir uns bewahren, diese Formate der Versammlung und Diskussion. 
Boenisch Dass man auch aushält, unterschiedlicher Meinung zu sein. 
Anders Natürlich! Auch hausintern ist es eine echte Aufgabe, zwischen den Extremen zu leben. 
Voges Einer der schönsten Momente, den ich am Volkstheater erlebt habe, war unsere Wahlveranstaltung aus Anlass der Österreich-Wahlen. Ein Public Viewing, bei dem die Stadtgesellschaft zusammenkam. Wir haben gemeinsam die Hochrechnungen geschaut, und dann sind tatsächlich 800 Menschen von einem tollen Moderator miteinander ins Gespräch gebracht worden – es war ein Gefühl von: Wir sind keine Parteiveranstaltung, nichts Religiöses und auch kein Fußballverein, sondern erleben gemeinsam Entscheidungen, die unsere Zukunft betreffen. Wo sonst gibt es das? Da ist mir die Funktion des Theaters nochmal neu bewusst geworden: Je breiter wir das Publikum erreichen, desto besser haben wir unsere Arbeit gemacht. 

TH Großartig, wenn diese Formen gesellschaftlichen Erlebens immer noch funktionieren. Vasco Boenisch, hat das auch die letzten Jahre in Bochum geklappt? 
Boenisch In Bochum herrscht ja erstmal die Einstellung: Mal gucken, wer in unserem Theater Intendant ist. Aber diese Correctiv-Recherche hat auch dort zu etwas Einmaligem geführt. Elfriede Jelinek hat daraufhin mit einem eigenen kurzen Text reagiert, und den haben wir mit Johan Simons in wenigen Wochen als szenische Lesung inszeniert – wobei wir das Ensemble ergänzt haben mit von Migration oder Flucht Betroffenen, teils geflüchtete Menschen aus Syrien, teils Menschen aus der polnischen und anderen Communities, die schon in der zweiten oder dritten Generation in Bochum leben. Sie waren als «wir» beteiligt an diesem Text. Dann war wichtig, dass wir es auf den Stufen des Theaters gemacht haben und bei freiem Eintritt, teilweise auch am Tag der Europawahl. Auch da stellte sich, mit zufällig anwesenden Passant:innen, ein Polis-Gefühl ein. Natürlich waren es die Gleichgesinnten, unterstelle ich, es gab keine Störungen von Rechten. Aber es hatte eine besondere Qualität für das Publikum, weil die Betroffenen als gleichberechtigte Künstler: -innen auf der Bühne standen. Nicht nur ich hatte Tränen in den Augen – als Mitbürger. 

TH Wir reden über Correctiv, über politisches Theater und einen diversen Spielplan, der die verschiedensten Gruppen anspricht. Wir reden aber auch im Stadttheater noch über «Hamlet». Sie haben sich in Bochum doch eigentlich sehr viel Mühe gegeben mit der Vermittlung des sogenannten klassischen Bildungskanons? 
Boenisch Ich denke, dass das auch eine Antwort auf Bochumspezifische Erwartungshaltungen war. Dass Stückentwicklungen und unbekannte Titel es oft schwerer hatten. Und natürlich war es auch ein besonderes Interesse von Johan Simons, sich an bestimmten Stücken nochmal abzuarbeiten, einige hat er ja zum zweiten, dritten Mal inszeniert, etwa «Lear» und «Woyzeck». Mein Eindruck in Hannover ist aber tatsächlich, dass die Klassiker hier nicht unbedingt ein Erfolgsgarant sind, solange sie nicht Schul- oder Abiturstoff sind. Folglich findet sich in unserer ersten Spielzeit bis auf den «Wanja»-Monolog von Simon Stephens und einen KI-«Hamlet» von De Warme Winkel kein kanonischer Stoff. Wir merken auch, dass etliche der Regisseur:innen, die uns interessieren, gerade woanders suchen – oder gleich selbst schreiben.
Anders «Volksfeind» oder eben «Hamlet» sind hier schon gut gelaufen. Doch der Besuch im Theater hat mit vielen Komponenten zu tun. Ein wichtiger Faktor bleibt der Schauspieler oder die Schauspielerin. Das alte, bekannte Spiel des Menschen, der sich im Zusammenprall mit anderen auf der Bühne öffnet und uns Dimensionen des Menschseins vorführt, ist immer noch wichtig fürs Publikum. 
Boenisch Deshalb ist ja die Auswahl des Ensembles so wichtig – markante Talente und Persönlichkeiten versammeln. Ich würde das thematisch aber noch über den Journalismus hinaus, von dem Kay sprach, auf Romane und Filmstoffe ausdehnen, die sich sehr viel plastischer auf Gegenwart beziehen als ein Großteil der zeitgenössischen Dramatik. Wenn wir in Hannover einen Niedersachsen-Noir wie «Die Frau mit den vier Armen» nach dem Roman von Jakob Nolte machen oder das Zeitenpanorama «Heimsuchung» von Jenny Erpenbeck oder die Männlichkeitssatire «Höhere Gewalt» nach dem Film von Ruben Östlund, dann aus unserer Beobachtung, Hoffnung, Unterstellung, dass viele Leute mitgehen wollen mit Geschichten, gehaltvollen, emotionalen Geschichten. Das kennen wir ja auch von unserem eigenen Serienkonsumverhalten. 
Voges So einen Spielplan zu machen, ist erstmal ein großes Privileg, aber auch eine schwierige Angelegenheit. Für mich lautet eine der wichtigsten Fragen am Anfang: In welcher Zeit leben wir? Was sind die Themen der Gegenwart und der Zukunft? Nicht ohne Grund ist das ein sehr kriegerischer Spielplan, den jetzt das Schauspiel Köln macht. Wir reden viel über Krieg, Aufrüstung, Bomben, und es wird von Tag zu Tag aktueller, schrecklicherweise. Aber es lag ja alles in der Luft … Die nächste Frage ist: Was glauben wir, will das Publikum? Für die machen wir ja Theater. Und dann: Was wünscht sich das Ensemble? Ich möchte das beste Ensemble Europas haben, und wenn die nicht glücklich sind, dann sind sie auch nicht die Besten! 
Boenisch Aber das beste Ensemble Europas ist doch schon in Hamburg und Hannover! (Gelächter) 
Voges … und dann kommen noch die Regisseurinnen und Regisseure dazu … und mit diesen Fragen macht man sich auf den Weg. Ich habe dabei keine «Das geht nicht»- oder «Das muss»-Begrenzung im Kopf, wir suchen genauso in der Antike wie in Zukunftsprojekten. Ich verzweifle ein bisschen an den Klassikern, wenn sie der Frage nach Relevanz in der Gegenwart nicht gerecht werden – und was ich überhaupt nicht mag, ist von der Regie im Theater erklärt zu bekommen, warum dieses oder jenes Stück nicht mehr zeitgemäß ist. Dann macht’s doch nicht! Dass wir jetzt in die Antike gehen, ist wiederum möglich, weil diese Archaik heute noch lesbar ist. Die «Orestie» etwa erzählt von der Geburtsstunde der Demokratie am Ende eines Rache-Kreislaufes über Generationen hinweg – das ist immer noch relevant in Zeiten zB des eskalierten Nahostkonflikts. Aber manchmal muss man auch gar nicht so weit zurückgehen. Ganz tolles Beispiel aus der letzten Spielzeit: Leonie Böhm inszeniert «Fräulein Else» – einer der seltenen Glücksfälle, wo zwei Frauen einen Zugriff hatten, sodass Schnitzler im Theaterraum absolut relevant und gegenwärtig wurde. 
Anders Ich kenne keine Regisseur:innen, die Klassiker inszenieren, um zu zeigen, dass man sie nicht mehr zeigen kann. Im Gegenteil, wenn Anne Lenk am Thalia Theater zur Eröffnung «Was ihr wollt» inszeniert, findet sie viel Gegenwärtiges darin. Aber nochmal zu der Frage, welche Geschichten wir erzählen wollen und warum wir sie im Kanon oft nicht finden. In meinen Augen liegt das im Andauern des Patriarchats begründet: Die Themen Gleichheit und Gerechtigkeit wurden zwar immer schon behandelt, aber heute geht die Sehnsucht dahin, unsere Welt hier und jetzt neu zu denken, anstatt steckenzubleiben in bekannter Kritik. Autorinnen wie Caren Jeß, Maria Milisavljevic oder Sivan Ben Yishai thematisieren das: Geht das, utopische Entwürfe? Können wir anders denken und anders arbeiten?

TH Apropos anders arbeiten – schlagen sich die Debatten der letzten zehn Jahre mittlerweile konkret in den Arbeitsweisen Ihrer Häuser nieder? 
Anders Es ist überhaupt nicht mehr denkbar zu arbeiten wie vor zwanzig Jahren. Die Arbeit im Theater hat sich verändert, zumindest in unse -rem. Dabei geht es um Sprache und um Formate des Zusammenarbeitens. Wir sprechen viel darüber – manchmal muss man aufpassen, dass man vor lauter Sprechen übers Arbeiten noch zum Arbeiten kommt! Gleichzeitig ist es gut und wichtig, die Strukturen von Machtmissbrauch und Erniedrigung infrage zu stellen … Und was die Arbeit von Regie und Spielenden angeht, ist viel vorangegangen in Hinblick auf das Miteinander. 
Boenisch Es gibt viele Rückmeldungen, mit welchen Regisseur:innen, zu welchen Themen oder Romanen Ensemblemitglieder gerne mal arbeiten würden, und ich denke, dass das heute eher auf offene Ohren trifft als vor 15, 20 Jahren. Was übrigens beiden Seiten viel Arbeit macht. Schließlich müssen alle sämtliche Vorschläge kennen und lesen, um gemeinsam abstimmen zu können. Und natürlich ist es auch eine strukturelle Frage, ob so ein Apparat wirklich auf kollektive Prozesse hin ausgerichtet ist und wo die Grenzen sind. 

TH Und was machen die Schauspieler:innen, die endlich mal Hamlet oder eine andere große Rolle spielen wollen? Oder wollen alle nur noch gemeinsam ihre Lieblingsbücher der Saison umschreiben? 
Boenisch In Bochum nach den ersten zwei, drei Jahren gab es tatsächlich eine Bewegung aus dem Ensemble, die gesagt hat: Liebe Leute, ist ja wirklich toll, all diese Stückentwicklungen und Projekte, aber wir würden auch gern einfach mal wieder Figuren spielen – und auch vor richtig vollem Haus. Womit ich nicht sagen will, dass das nicht vorkam, aber klar, wir haben bestimmte Experimente gewagt, zu denen abends nur 80 Leuten erschienen. Daraufhin haben wir Regisseur:innen wie Mateja Koležnik engagiert, die in «Kinder der Sonne» nicht nur mit den Stars, sondern mit wirklich jede:r Schauspieler:in intensiv an den Rollen arbeitet. 

TH Wie sieht es inzwischen mit der Arbeitsbelastung für Schauspieler.innen im festen Ensemble aus? Es gab in den letzten zehn, 20 Jahren eine große Verdichtung der Spielpläne, Ulrich Khuons Deutsches Theater, an dem Sie, Sonja Anders, als Chefdramaturgin maßgeblich beteiligt waren, ist da immer kräftig vorangegangen. Da haben die Leute teilweise schon mit hängender Zunge gearbeitet. Jetzt wird es, angestoßen von der GdBA, neue NV-Solo-Verträge mit neuen Arbeitszeitregelungen geben. Und Sie sagen es selbst, Mitbestimmung braucht Zeit und Engagement. Wie geht das bei Ihren Plänen zusammen? 
Anders Das Ensemble ist weder in Hannover noch in Hamburg sehr belastet. Es gibt temporäre Spitzen, aber auch ruhige Phasen. In Hannover hat niemand im Ensemble mehr als 100 Vorstellungen im Jahr gespielt, das kenne ich auch anders. Ich finde eher, dass die Abteilungen drumherum, Dramaturgie, Betriebsbüro oder Presse exorbitant belastet sind. Sie haben ja ebenfalls NV-Solo-Verträge, also künstlerische Verträge. Für sie werden die neuen Tarifverträge ein Quantensprung sein. In kleineren Häusern ist das alles etwas anders, da schultern Schauspieler:innen bis zu sechs Premieren im Jahr; bei uns sind es circa drei. 
Boenisch Bei uns drei bis vier. Und ich hoffe auch auf Eigeninitiative für das Sonderprogramm. Dafür sollten an einem Haus wie Hannover Luft und Raum sein. Noch. 
Voges Gute Arbeitsbedingungen muss man sich leisten können. Und da ist es am Thalia Theater, in Hannover und Köln einfacher als in Castrop Rauxel, Moers oder Dinslaken. Was die Konsequenz sein wird aus den neuen NV-Bühne-Bestimmungen: Wir werden kleiner besetzen. Die Schauspielschulen haben gerade das Problem, dass sie ihre Absolvent:innen nicht mehr loswerden, weil die Einstiegsgage so gestiegen ist, dass man statt früher drei Absolvent:innen heute nur zwei beschäftigen kann. Dann muss man sich angesichts der Sparvorgaben fragen, ob man vielleicht lieber nur eine:n nimmt. Entsprechend packt man auch nicht neun Spieler:innen in eine Produktion, sondern vielleicht nur fünf, damit die anderen so ihre freien Tage haben. Wir reduzieren nicht die Anzahl der Vorstellungen, sondern die der Leute im Ensemble oder die Ensembles in der jeweiligen Produktion. 
Anders Ich denke, dass die Ensembles in Zukunft kleiner werden, aus dem Grund, dass das Disponieren immer schwieriger wird durch die neuen zeitlichen Regelungen und parallel die finanziellen Grundlagen labiler. 
Voges Vielleicht ist das auch einer der Gründe für die vielen tollen Monolog-Abende gerade, die aus der Not heraus entstanden sind, etwas zu kreieren, was sich gut ansetzen lässt, damit die anderen alle frei haben. 
Boenisch Das ist fast schon die Vorwegnahme eines anderen Theatersystems. Die meisten dieser Monologe kommen ja aus dem angelsächsischen Raum mit einem ganz anderen Theatersystem. Und ich frage mich schon, wann dieses deutschsprachige Ensemble- und Repertoiresystem in ein Ensuite-System umgestellt werden muss? Wo man hauptsächlich mit Gäst:innen arbeitet, die nur für eine Produktion kommen. In zehn, in 15 Jahren? Weil dieser ganze dispositorische Aufwand, die Arbeitszeitregeln, die Finanzsorgen sukzessive am Fundament der Struktur des Ensemble- und Repertoirebetriebs nagen. 

TH Oder man stellt auf einen phasenweisen Semistagione-Betrieb um, wie an der Berliner Schaubühne. 
Boenisch Das ist aber nur in einer Stadt wie Berlin möglich, mit dieser hohen Frequenz von Tourist:innen. Die Schaubühne hat das Touring und den Gastspielverkauf perfektioniert und darauf ihren Betrieb umgestellt. Dazu muss man die Stücke lange im Repertoire halten können, viele Vorstellungen ansetzen, und das funktioniert nur, wenn der Tourismus immer neues Publikum generiert. 

TH Wenn wir uns Ihre neuen Spielpläne angucken, sehen wir auch einen neuen Pragmatismus. Sie alle übernehmen viel aus der vorangegangen Spielzeit, auch der der Intendanz-Vorgänger:innen. Das war früher eher verpönt, da sollte alles neu von den Neuen sein. Von den 29 Produktionen in der nächsten Spielzeit in Köln sind z.B. 13 Übernahmen aus Wien oder der vorherigen Leitung. 
Boenisch Wir versuchen auch, möglichst viel aus der jetzigen Intendanz weiterzuspielen. Frei von Eitelkeit. Das ist übrigens auch eine selbstkritische Lektion aus der Bochumer Zeit, wo wir 2018 tatsächlich einen klaren Cut gemacht haben. 
Anders Wir wollen zukünftig am Thalia Theater grundsätzlich kooperativ arbeiten. Wir führen aufgrund der guten Erfahrungen mit dem Theater NITE aus Groningen unsere Zusammenarbeit fort. Ich würde das gerne ausweiten. Das Kredo «Jedes Theater gleicht einer Burg»-Denken ist total von gestern. Gerade planen wir mit einem großen deutschen Stadttheater eine richtige Koproduktion. Und als das Schauspielhaus Zürich unter Ulrich Khuon jede Menge Inszenierungen für nur eine Spielzeit aufgegleist hat, haben wir uns zusammengetan und eine Koproduktion geplant. Ursprünglich wollten wir das mit Pollesch machen, jetzt ist es «Die kleine Meerjungfrau» von Bastian Kraft geworden. 
Boenisch Vielleicht kann ich noch eine kleine Suchanzeige hier aufgeben! Wir haben von Bochum aus mit Zürich versucht, so ein Modell zu entwickeln, in dem wir abgespielte Produktionen austauschen wollten, damit sie im anderen Theater noch ein zweites Leben haben. Für die Zürcher war das tatsächlich eine veritable Spielplanposition, Teil auch des Abos. Aber weil wir das in Bochum mit unserem Repertoirebetrieb nur so halb hinbekommen haben, würde ich gerne in Hannover mir selbst und der Welt beweisen, dass es funktionieren kann.
Anders Ich finde die Vorstellung, dass alle auf Semistagione umstellen, schon einen brutalen Einschnitt in das System. Das kann ich mir gar nicht vorstellen. Auch wenn ich voraussichtlich nicht mehr so arbeiten muss, ist das Drohszenario leider real, wenn es so weitergeht mit den Kürzungen und den parallel dazu steigenden Kosten. Ich fände es aber schade für die Städte, das Stadttheater lebt nun mal von Repertoire und Ensemble.
Voges Ich bin Intendant geworden, weil ich keine Lust mehr hatte, alle acht, neun Wochen an einem anderen Ort immer wieder von vorne zu erklären, was ich im Theater suche. In meiner Assistenzzeit in Oberhausen habe ich gemerkt, dass am Theater so etwas wie eine Künstlerfamilie entstehen kann, mit der ich wachse und von der ich lerne. Ich liebe das Ensembletheater, weil es auf Kontinuität, Vertrauen, gemeinsamer Erfahrung, dann wieder Störung basiert, weil es sich im permanenten Wachstum befindet. Ich glaube nicht, dass kleinere tourende Gruppen die Qualität eines Ensembletheaters erreichen können. Das Vertrauen macht die Qualität dieser Kunst aus. Ich war etwas verwundert eben über die Frage, inwiefern der Diskurs über Machtmissbrauch die Arbeitsweisen geändert hat. Ich glaube, dass gute Kunst im Theater vor 20 oder 40 Jahren wie heute aus diesem Miteinander und Respekt voreinander entstanden ist. Sicher gibt’s Geschichten von Machtmissbrauch, will ich gar nicht bestreiten, aber ich glaube, im gemeinsam Kreieren-Wollen liegt die Kraft und Schönheit dieser Kunstform. 
Anders Ich habe einfach so viel erlebt als Dramaturgin. Interessant, dass dir das als Regieassistent nicht so ging. Brüllende, gewaltvolle Regisseure, Leute, die mit ihren Mitarbeiter:innen mies umgehen – ich möchte das nicht an unserem Haus. Und mittlerweile würden die Leute das hier auch nicht mehr dulden, die sind viel zu selbstbewusst. Hier brüllt höchstens noch jemand aus Verzweiflung über sich selbst! 
Boenisch Ich habe allen neuen Ensemblemitgliedern beim Vorsprechen zu vermitteln versucht, dass für mich im Ensemble zu sein mehr ist als der Kreislauf Konzeptionsprobe – Premiere – Konzeptionsprobe – Premiere. Sondern dass wir an diesem einen Ort zusammenleben und Theater machen auch jenseits der Produktionen. Dass wir diskutieren und uns Gedanken machen, was noch alles an so einem Haus stattfinden soll, kann, muss, natürlich auch in Begegnung und Auseinandersetzung mit dem Publikum. Wir sind eine Gruppe von Gleichgesinnten mit sehr unterschiedlichen Erfahrungen und Talenten, die Lust haben, zusammenzuarbeiten und kreativ mit dieser Stadt umzugehen. 

TH Jetzt haben wir viel über Folgen und Sekundärfolgen von Sparsze - narien gesprochen, auch von den höheren Kosten in Folge besserer Arbeitsbedingungen. Ist Politik – zunehmend auch rechte Politik mit der Einforderung der Neutralität künstlerischer Institutionen – ebenfalls ein Bedrohungsszenario? Oder ist davon Hannover mit einem grünen OB, in Hamburg mit dem SPD-Kultursenator Carsten Brosda und in Köln noch nichts zu bemerken? Fühlen Sie sich noch uneingeschränkt, wenn es um politische Kunst geht? 
Boenisch Wir diskutieren viel über den Aspekt vorauseilender Gehorsam. Ich habe mir z.B. die Wahlergebnisse nach Wahlkreisen in Hannover und Region genau angeschaut. Hinzu kommt, dass die Medienvielfalt abnimmt. In der Dramaturgie reden wir viel darüber, ob wir das Gendern mittlerweile wieder verteidigen müssen. Wir wollen eigentlich von der Binarität weg, was bedeutet das für Garderoben und Toiletten – wie leicht oder schwer ist das vermittelbar, auch hausintern? Wen laden wir für Reden ein, wem treten wir damit möglicherweise auf die Füße? Alles Anlässe zur Reflexion, wobei wir aktiv versuchen, uns gegen vorauseilen -den Gehorsam zu stellen. 
Anders Wir nehmen die erfolgreiche Gesprächsreihe «Wir müssen reden» mit Sascha Chaimowicz mit nach Hamburg. Er ist Chefredakteur des «Zeit»-Magazins und hat nicht selten ganz andere Ansichten als wir – er schlägt oft Gäste vor, die jenseits unserer Bubble liegen. Das war für mich ein Lernprozess, immer mal wieder jemanden einzuladen, mit dem ich überhaupt nicht einer Meinung bin – wobei dann interessanterweise das Publikum oft meiner Meinung war. Wichtig ist, man bleibt im Gespräch, auch wenn im Moment der Backlash sehr spürbar ist, sogar in den Häusern selbst. 
Voges Ich glaube, der Wind kommt so stark von vorne, wie ich das in den letzten 25 Jahren nicht erlebt habe. Wir müssen Strate -gien entwickeln, damit umzugehen. Wo liegt die Relevanz der Theater für die Gesellschaft? Denn natürlich wird gefragt, was ist mit den Kitas, warum sind die Brücken kaputt, die Armee braucht Geld, und was bringt uns jetzt eigentlich dieses Theater? Wir haben 96 Thesen für das Schauspiel Köln geschrieben, Thesen in progress. Eine heißt: Wir sehen das Schauspiel Köln in Zukunft als ein Medienhaus. Wir denken über die Bühne hinaus – seit Jahren schon. Wir haben Bücher und Tonträger publiziert, haben Filme gemacht, die teilweise in Kinos und im Netz liefen, geben eine Designmarke heraus, produzieren also auch jede Menge Relevanz jenseits der Bühne.

TH Sonja Anders schreibt schon mit …
Voges Wie können wir Verbündete finden, mit denen wir gemeinsam diesen Ort relevant machen für die Menschen, die ihn bezahlen? Wir müssen laut und sichtbar werden. Wir sind nämlich nicht sicht- und hörbar für die, die nicht ins Theater gehen. 

TH Letzte Frage: Was ist für Sie gute Kunst? 
Voges Gute Kunst ist mutig, fördert Ambiguitätstoleranz, beruht auf humanistischem Boden, will nicht gefallen, ist persönlich, politisch, möchte die Menschen beschenken und zum Gespräch anregen; gute Kunstschaffende sehen das Werk größer als sich selbst … so könnte ich jetzt noch eine Stunde weiterreden! 
Anders Gute Kunst brennt sich ein, man nimmt sie mit …
Boenisch … vergisst man nicht und berührt tiefer als Journalismus, Wissenschaft und Politik!

Das Gespräch führten Eva Behrendt und Franz Wille.


Theater heute Jahrbuch 2025
Rubrik: Neue Intendanzen, Seite 106
von Eva Behrendt und Franz Wille

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Hallelujah!

 

Oper? Schauspiel? Performance? Spektaktel? – Egal! Die Inszenierung des Jahres heißt – «Sancta»! Florentina Holzingers queerfeministische Aneignung einer katholischen Messe im Rahmen von Paul Hindemiths Kurzoper «Sancta Susanna»
– u.a. koproduziert von den Opernhäusern in Schwerin und Stuttgart – feiern 9 Theaterkritiker:innen. Auch wenn das Publikum insbesondere in Stuttgart mit...

Warum tun sich Gesellschaften mit sozialem Wandel so schwer?

In Zeiten wie diesen, nach einer vorgezogenen Bundestagswahl und einschneidenden Ereignissen im Oval Office, der politisch angestrebten Vereinbarung zu Sondervermögen und Schuldenbremse, ist man versucht, einen Kommentar zur politischen Lage und Stichworte zur Zeit zu liefern: als engagierter Bürger, Zeitgenosse oder analysierender Beobachter von Politik. Von einem Soziologen dürfen und...

Die Naturtrompete und ihre subtilen Töne

Eine königlich gedeckte Frühstückstafel. Die leckerste Frühstückstafel, die Sie sich vorstellen können.» Noëlle Haeseling leitet ihr Stück «Fanfaren!» mit dieser köstlichen Beschreibung der Bühne ein und gibt in den ersten Zeilen schon einen Vorgeschmack auf ein zartes Schauspiel mit bitterem Kern.

Eine Galerie – hier warten sie: Die erste, zweite, dritte und vierte Fanfare – sie bilden...