Wir sind die Neuen!

Das Festival Radikal jung am Münchner Volkstheater – genderausgewogen auch ohne Quote

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Ein denkwürdiger Abend, wenn auch auf andere Weise als erwartet, eröffnete die 18. Ausgabe des Festivals Radikal jung im Münchner Volkstheater. Im vollbesetzten Großen Saal mit 700 Plätzen war man gespannt auf Peter Handkes jüngstes Alterswerk «Zwiegespräch» in der Burgtheater-Inszenierung von Rieke Süßkow und auch gleich gefesselt davon, wie Bühnenbildnerin Mirjam Stängl zu Beginn eine Faltwand wie von Geisterhand quer über die Bühne kriechen lässt, woraufhin Pfleger:innen die Insassen der straff organisierten Seniorenresidenz in die vorgesehenen Ecken sortieren.

Im weiteren Verlauf trat dann allerdings das ein, was das Alter manchmal mit sich bringt, Black-out, totale Text-Amnesie bei einem 83-jähri -gen Burgtheaterdoyen, tätschelnde Beruhigungsversuche des Kollegen (dem es in anderen Vorstellungen auch schon mal ähnlich gegangen sein soll) und ein herzbeklemmendes Zwiegespräch mit der Souffleuse von Halbsatz zu Halbsatz, mehr als eine halbe Stunde lang. Dass dabei Handkes tiefsinniges Erinnerungsgeflecht in den Hintergrund und Süßkows ausgefeilte Choreografie gewaltig ins Wackeln geriet, geschenkt, denn selten hat man einen so ergreifend existenziellen Moment im Theater erlebt, mit dem tröstlichen Ausgang, dass, selbst wenn gar nichts mehr geht, es doch irgendwie weitergeht – zumindest solange alle auf der Bühne bleiben.

Nach diesem Auftakt ist das Festival für junge Regie, das das Münchner Volkstheater mit zwei Jahren Coronapause seit 2005 ausrichtet, schnell auf Betriebstemperatur angekommen, fast alle Vorstellungen ausverkauft, die Publikumsdiskussionen im Zelt trotz prasselndem Dauerregen lebhaft und gut besucht. Die 13 eingeladenen Inszenierungen zeigen nicht nur ganz ohne Quote ein ausgewogenes Geschlechterverhältnis, sondern sind wie immer eine Fundgrube für die Zukunft, ein Spektrum junger Regiepositionen, bei denen die Lust auf die große Bühne und das ausschweifende Geschichtenerzählen im Verhältnis zum formalen Experiment diesmal deutlich überwiegt. Dabei erscheint die Frage nach dem immer wieder Neuen ohnehin schon länger obsolet. Viel mehr geht es den Jungen darum, Fuß zu fassen in einem enger werdenden Betrieb, sichtbar zu sein, gehört zu werden und einen Raum zu schaffen für Erzählungen und Momente der Verständigung innerhalb von Diskursen, die ihnen jeweils wichtig sind.

Entscheidender Unterschied, vielleicht sogar Vorteil von Radikal jung im Vergleich zum großen Geschwister, dem Berliner Theatertreffen, ist außerdem die Vereinbarung, dass von der vierköpfigen Jury – Festivalleiter Jens Hillje, Theaterkritikerin Christine Wahl, Kurator Florian Fischer und, schon seit Beginn dabei, der Publizist C. Bernd Sucher – nicht immer Konsensentscheidungen getroffen werden müssen, was mitunter zu erfrischenden Seitenblicken in die Raritätenecke führt.

Sonst hätte man womöglich nicht erleben dürfen, wie der belgische nonbinary Artist Stef Van Looveren, mit seinen Gefährt:innen bisher eher in der Kunst- und Modeszene unterwegs, in seiner ersten Live-Performance «Radical Hope – Eye to Eye» ein frisch aufgeschüttetes Blumenbeet mit Schlammbecken zum paradiesischen Schauplatz verträumter Liebesspiele macht, um schließlich als überkrustetes Tableau vivant in einer überdimensionalen Schmuckschatulle zu enden. Oder «The Dan Daw Show» aus Großbritannien, in der der Performer und queer/crip Activist Daw sein Konzept von disabled leadership mit der Lust zusammenbringt, von seinem Bühnenpartner Christopher Owen kinky dominiert zu werden, und dabei Kategorien wie Kontrolle und Unterwerfung höchst frivol und unterhaltsam über den Haufen wirft. Oder, völlig andere Baustelle, die «Gondelgeschichten» des Tiroler Dokumentartheater-Kollektivs Institut für Medien, Politik und Theater Felix Hafner, Emily Richards und Anna Wielander in Kooperation mit dem Tiroler Landestheater Innsbruck, das mit seiner realitätsnahen Playback-Aufbereitung von O-Tönen aus Landespolitik und Tourismusbranche den nahenden Kollaps von Skizirkus, Seilbahnwirtschaft und Klima kulturanthropologisch aufs Korn nimmt – ein Wahnsinn mit System und Methode, der sich vor der Bühneninstallation von Lois Hechenblaikner aus der Werk-Serie «Après Ski», ein Wandbehang aus Hunderten von abgebrochenen Skispitzen, besonders apokalyptisch ausmacht.

Ein weiter Weg führt von hier zu Selen Karas postmigrantischer Fami -liensaga «Dschinns» nach dem Roman von Fatma Aydemir aus dem Nationaltheater Mannheim. Nach 30 Arbeitsjahren in Deutschland bleibt Vater Hüseyin bei der lang ersehnten Rückkehr in die alte Heimat Istanbul das Herz stehen, und für die Kinder beginnt ein umwegreicher Prozess des Aufeinanderzugehens in teils komödiantischer, teils (melo-)dramatischer Tonlage, wobei die Risse in der Erinnerung und die Entfremdung eines Lebens im Spagat zwischen den Kulturen mit der Zeit eher größer werden. Lydia Merkel hat dazu ein Haus auf die Bühne gebaut, dem immer wieder das Dach davonfliegt, und während die Töchter Emanzipation im Schnelldurchgang nachholen, werden die Söhne zwischen einem harten patriarchalen Männerbild und der eigenen, teils queeren Wunschidentität zerrieben. Kara bleibt dramaturgisch nah am Bogen der literarischen Erzählung, mal sprudelnd aufgekratzt, dann wieder etwas langatmig ausgespielt, aber immer mit viel Sympathie für alle Perspektiven dieser psychologisch vollgepackten Generationenkonstellation, als müsse hier auf einer deutschen Bühne sehr vieles nachgeholt werden. Ebenfalls ein Roman (wie bei noch vier weiteren eingeladenen Inszenierungen) liegt im Fall von Annalisa Eng -hebens Inszenierung aus dem Deutschen Schauspielhaus Hamburg zugrunde. Dabei steht erst einmal eine starke Skulptur im Raum: Einen unförmigen Knoten aus verrenkten Armen und Beinen ohne Kopf hat die Bühnenbildnerin Sanghwa Park geschaffen, das Publikum sitzt an den Wänden drumherum und hat nur jeweils eine Seite im Blick. Einen ähnlich beklemmenden Klumpen trägt die Hauptfigur von Annie Ernaux’ autofiktionalem Bericht «Das Ereignis», eine junge Literaturstudentin Anfang der 1960er Jahre, in ihrem Bauch. Ein Kind, das sie zu dem Zeitpunkt nicht will, weil es ihr das Gefühl gibt, nicht mehr als Intellektuelle wahrgenommen zu werden, sondern in eine Klasse zurückzufallen, die von Alkoholikern und ledigen Müttern symbolisiert wird.

Erst 40 Jahre später schreibt Ernaux auf, wie der illegale Schwangerschaftsabbruch die Frau, die sie damals war, an den Rand ihrer hart erkämpften akademischen Existenz bringt, kühl die sozialen Gegebenheiten sezierend, ohne die Not und das Ringen, Leben gegen Leben, zu rela -tivieren. Engheben, die in Italien Philosophie studiert hat und zeitweise dem WM-Kader der deutschen Synchronschwimmerinnen angehörte, versteht es, die physische und psychische Bedingtheit konzentriert und ohne vordergründige Exaltation aufeinander zu beziehen. Den Text verteilt sie auf drei Spielerinnen – Josefine Israel, Sasha Rau und Sandra Gerling, für die in München spontan und ungeheuer präsent Maja Beckmann eingesprungen ist. Die drei loten abwechselnd aus, was in und zwischen den Zeilen steht, sind dabei ständig in Bewegung, klettern auf dem Körper-Ding herum, fesseln sich mit Wollfäden daran, zerren und schieben. Es ist ein sehr physisches Zerreißspiel einerseits und zugleich eine messerscharfe Analyse, besonders erschreckend in Zeiten, wo diese alte Katastrophe in vielen Teilen der Welt wieder wahr zu werden droht.

Einen echten Knaller hat Dennis Duszczak am Theater Dortmund mit seiner Version von Sibylle Bergs Roman «GRM. Brainfuck» als «soge -nanntes Musical» (Musik Lutz Spira) gelandet. Hier dreht eine restlos abgefuckte Generation Y – «Trauma ist ihr zweiter Vorname» –, der der Neoliberalismus der Eltern die Lebensgrundlage unterm Hintern weggesprengt hat, nach allen Regeln der Kunst noch einmal auf. Nichts wird beschönigt, dafür treiben sie es, Frauen wie Männer, noch einmal ohne Reue über dem Abgrund. Heftiges Altersbashing gehört zum guten Ton, und Duszczak lässt seine neun Akteur:innen und Musiker:innen zeigen, wie perfekt die Welt von morgen, auch musikalisch, sein könnte, ließe man sie nur machen.

Eine ziemlich krude Abrechnung mit dem Kosmos Familie voller inzestuöser Fantasmen und Tabus steckt auch in Steven Uhlys Roman «Mein Leben in Aspik», den sich die Regisseurin und Schauspielerin Friederike Drews für ihren Regie-Einstand in der Box des Deutschen Theaters vorgenommen hat – mit Erfolg. Wer so virtuos mit nur zwei Personen – Simon Brusis und Susanne Jansen – einer multifunktionalen Klappwand als Bühnenbild (Ev-Simone Benzing) und ein paar simplen Halbmasken die Geschichtenmaschinerie über drei Generationen am Laufen hält, Liebe und Krieg, Einbrüche, Höhenflüge und giftige Rangeleien um die Erzählhoheit inbegriffen, hat sich den Schritt auf die große Bühne verdient.

Auf den ersten Blick irritierend, auf den zweiten fast schon hyperaffirmativ wirkt der Switch, den Jan Friedrich für seinen «Woyzeck» am Theater Magdeburg entwickelt hat, indem er die Bühne als Oberfläche eines Ego-Shooter-Computerspiels interpretiert. So nehmen wir mit Woyzeck als ruckelndem Avatar an der Challenge «Besorge Geld für die Familie» teil, wobei die Frage «Wer spielt hier wen?» ungelöst bleibt trotz der toll auf die Live-Videoebene abgestimmten Optik von Vanessa Rusts Kostümen und einer zusätzlichen Verfremdung durch die von der Seite als Playback eingesprochenen Dialoge. Nach einem längeren Insert aus Büchners «Hessischem Landboten», der hier wie ein Pamphlet aus der Reichsbürgerszene klingt, entscheidet sich Woyzeck immerhin nicht für den Femizid an Marie, sondern für einen umfassenden Amoklauf, dem alle anderen Charaktere zum Opfer fallen – Tabula rasa für das nächste Level.

Um die (Re-)Konstruktion von Wirklichkeit, hier jedoch mit höchstem Bemühen um analoge Perfektion, geht es in Tom McCarthys Kultroman «8 ½ Millionen» von 2006, als diesjähriger Hausbeitrag des Volkstheaters inszeniert von Mathias Spaan. Ein Unfall hat den Ich-Erzähler die Erinnerung an sein bisheriges Leben gekostet, das er nun mittels der großzügigen Abfindung der Versicherung und eigens engagierter Komparsen aus bruchstückhaften Déjà-vus wieder zu erschaffen versucht. Spaan hält das Spiel um Simulation und Authentizität, zwanghafte Kontrolle und Weltverlust mit feinem Sinn für Humor und Verzweiflung in der Schwebe, spielt mit der wachsenden Panik, wenn die Rekonstruktion der Rekonstruktion den letzten Rest von Realität aufzufressen droht, der Pianist zu gut spielt oder das Sonnenlicht es nicht richtig macht und zuletzt nur noch der Sprung vom Fake zum echten Banküberfall Rettung verspricht. Spaan führt sein Ensemble – allen voran Steffen Link und Jan Meeno Jürgens – in wechselnden Rollen nah an die Figuren heran, um dann im nächsten Moment wieder Abstand und Autonomie zu gewinnen. Eines der überzeugendsten Beispiele der diesjährigen Auswahl, wie sich Regie an einem Text aufladen und dabei Eigenständigkeit bewahren kann.

Überhaupt scheint die Zeit der selbstherrlich-hermetischen Dekonstruktion vorbei, Stoffe, seien es alte oder selbst formulierte, bleiben wichtig, Regie eine Möglichkeit, sich durch sie hindurch zu formulieren und in Dialog zu treten. Die Jungen sind Teamplayer und keine Monomanen. Dass das gut ankommt, zeigt auch der mit 4000 Euro dotierte Publikumspreis für «Sistas!» von Glossy Pain (Isabell Redfern, Katharina Stoll und assoziierte Künstler:innen) in Koproduktion mit der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz, die mit ihrer frontensprengenden Verwirrung der Identitätsdebatte für Furore sorgten. Zusammen geht was – zumindest wenn man sich zuhört und nicht nur gegenseitig abcancelt.


Theater heute Juli 2023
Rubrik: Festivals, Seite 30
von Silvia Stammen

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