Welcome, Barbaren!

Der altgriechische Demokratie-Optimismus hat es zunehmend schwer. Keiner hört mehr auf Aischylos: Roger Vontobels «Orestie» in Essen und Stefan Puchers «Perser» in Zürich

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Besonders vertrauenserweckend sieht dieser Gerichtshof nicht aus: Die Toten und Erschlagenen des Stücks – Agamemnon, Kassandra, Klytämestra und Aigisth – kehren als blutverschmierte Gräuelleichen wieder, erklimmen ein mikrofonbestücktes Podium und bekommen von einer Elektra, die auch Pallas Athene sein könnte, vier kissengroße Richterperücken übergestülpt. Allerdings entpuppen sie sich weniger als die erhofften Gerechtigkeitsspender denn als Verfahrensspezialisten in eigener Sache.

Sie interessieren sich deutlich stärker für die Mineralwasserversorgung am Tisch als für die Verteidigungsrede des Orest, der für seinen Monolog vor den zerstreuten Oberrichtern dreimal neu ansetzen muss. Und als die vier auch noch ihre praktischen Richterhämmerchen gefunden haben, ist es mit der Konzentration endgültig vorbei. Erst zerdreschen sie lustig ein Wasserglas, dann das Verfahren. Bevor auch nur ein Stimmstein geworfen wird, ist das einseitige Erynnien-Plädoyer gegen Orest in ordentliche Rechtsform gegossen: «Für welchen Staat ist dieser Mann noch tragbar?» 
 

Der letzte Vernunftoptimist: Peter Stein

Mit dieser kleinen Szene hat auch Regisseur Roger Vontobel im Essener Grillotheater Aischylos’ ...

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Theater heute November 2008
Rubrik: Aufführungen, Seite 35
von Franz Wille

Vergriffen
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