Ungeheuer ist viel
«Ich könnte vielleicht Puppen herstellen, die Herz, Gewissen, Leidenschaft, Gefühl, Sittlichkeit haben. Aber nach dergleichen fragt in der ganzen Welt niemand. Sie wollen nur Kuriositäten in der Welt; sie wollen Ungeheuer. Ungeheuer wollen sie.» Die Klage des alten Wachsfiguren-Schöpfers Tino Percoli in Joseph Roths Roman «Die Geschichte der 1002. Nacht» könnte durchaus auch ein Fazit des 16. Internationalen Figurentheaterfestivals in Erlangen, Nürnberg und Fürth sein.
Denn wenn in diesem uralten Metier etwas schon lange keinen Platz mehr hat, dann sind das Nettig- und Betulichkeiten, wohliger Herz-Schmerz, das «gute Ende» und was es dergleichen Versöhnliches und Berechenbares mehr gibt. Stattdessen ziehen die Puppen und Objekte, hochgerüstet und beseelt von Rachegelüsten und Zerstörungswut, stellvertretend für den Menschen in die finale Schlacht gegen alles Wahre, Gute und Schöne.
Übrig bleiben dann verbrannte Bühnenerde, demolierte Papp- und Holztorsi, das Chaos der Dinge – aber immer mehr eben auch der lebendige Mensch selber, der sich inmitten der animierten Realität schließlich ausnimmt wie eine malträtierte Marionette, der man die Fäden zur wirklichen Welt und zu Gott ...
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