Ein klassisches Stück
Das Kameraauge der Autorin fährt im Inneren einer Küche entlang und bleibt am auf dem Tisch liegenden Käsebrot hängen. Ein in Zellophan eingepacktes Käsebrot. Dessen Käse sich wellt und schwitzt. Dem die Butter aus den Löchern quillt. Dessen Farbe auch eine Haarfarbe sein könnte. So schreibt sie, so beobachtet sie, so sind ihre Welten. Im Detail entdeckt Anja Hilling die Tragik ganzer Biografien; die übergroße Nahaufnahme erzählt vom Unglück eines kompletten Menschenlebens.
Der Schweißtropfen, der sich von Frau Schlüters Stirn eine Bahn durch die Puderschicht frisst, das energetische Hausmeisterknie, dessen Anblick schon fast zu viel für die dahindämmernde Schlüter ist – «Verdammt steiler Tagesausflug, so’n Hausmeisterknie!» –, anderthalb Stunden nach den vielen Schlaftabletten verengt sich der Blick zum Tunnel. Doch nicht nur der pharmakologische Zustand Frau Schlüters nach ihrer Verzweiflungstat lässt die Optik überscharf werden, auch die kleinen Dinge in Eugen Zarters Hausmeisterwohnung verraten die Auflösung: der Tesastreifen am Foto von Karin, das von der Wand fällt, der grüne Schal an der Garderobe, Kurts schwarze Haare im Waschbecken, damit ist schon das ganze Universum des ...
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Theater heute Jahrbuch 2005
Rubrik: Neue Stücke der neuen Spielzeit, Seite 148
von Marion Hirte
39 Kritiker haben ihren geballten Sachverstand angestrengt, die Saison vorm unbestechlichen inneren Auge Revue passieren lassen und unter Qualen, wie immer unfehlbar und selbstlos, entschieden: die Spitzenleistungen der Spielzeit, die Achttausender der Bühne!
Endlich waren sich klare Kritiker-Mehrheiten einmal einig: Der Dramatiker des Jahres heißt Lukas Bärfuss, dessen Glaubensstück «Der Bus» auf die Bühne bringt, worüber alle sonst immer nur auf Podiumdiskussionen palavern. Und die unumstrittene Nachwuchsdramatikerin der Saison ist Anja Hilling, Noch-Studentin für Szenisches Schreiben in Berlin, aber schon von vielen...
15 Jahre nach der Wende hatte die Vernunft das Problem längst abgehakt: Ost oder West dürfe keine Rolle mehr spielen, die Unterscheidung sei historisch überholt. Aber wer hört schon auf die Vernunft? Bei der Diskussion um den zukünftigen Intendanten des Deutschen Theaters Berlin durchbrachen die alten Vorurteile mit Begeisterung alle Schranken und mündeten in ein...