Das Wohlstandsarrangement

Die letzte Wiesbadener Biennale «Neue Stücke aus Europa» bot noch einmal dramatische Positionen fernab des internationalen Festival-Mainstreams auf

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Ich sehe: Geldautomaten (…), Hochgeschwindigkeitszüge, FKK-Strände, Kinder mit Handys, Reality-Shows auf MTV (…), Kaffee ohne Koffein / Bier ohne Alkohol / Süßes ohne Zucker / Fleisch ohne Choleste­rin». So stellt sich Europa von außen dar. Aus Sicht der somalischen Olympionikin Samia, die in Carla Guimaraes’ tragikomischer Flüchtlingsgeschichte «Die unglaubliche Geschichte des Mädchens, das Letzte wurde» (aus Spanien) von ihrer afrikanischen Heimat aus die Festung Euro­pa erklimmen will.

Ein Kontinent als Ansammlung von Konsumgütern, körperkultischen Selbstpraktiken (FKK) und Diätetik (Kaffee ohne Koffein). Europa als Wohlstandsarrangement.

Aus der Binnensicht erscheint diese europäische Wellness-Oase natürlich durch und durch gefährdet. Im griechischen Festivalbeitrag zum Beispiel. Da tanzen die Akteure der Athener Blitz Theatre Group in «Late Night» inmitten von Schutt und Trümmern in einem abgewetzten Ballsaal. Ein dritter Weltkrieg hat die Staaten verwüstet, und die drei hier versammelten Tanzpaare erinnern sich reihum in unterkühlten Erzählsplittern der Kriegs- und Vorkriegszeiten. «Ich denke an all die Spieler der Premier League. / Ich frage mich: / Ist es möglich, dass sie ...

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Theater heute August-September 2014
Rubrik: Festivals/Aufführungen, Seite 22
von Christian Rakow

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