Das große Metzgern
Der Nitsch ist ja der bekannteste Maler Österreichs. Aber das ist ein ganz normaler und angenehmer Mensch, sehr gescheit, gebildet und gemütlich. Sehr gemütlich!» Der ältere Herr, der dies seinen deutschen Nebenstehern voller Bürgerstolz zu Protokoll gibt, ist zwar nicht unbedingt in Orgienstimmung, aber doch sichtlich in Festtagslaune und wild entschlossen, sich diese durch nichts verderben zu lassen.
Weder durch die frostigen Temperaturen, die auf der Feststiege an der Landtmann-Seite des Burgtheaters herrschen, noch durch die anhaltende Ereignislosigkeit, die das dicht gedrängt wartende Publikum zu Beginn der 122. Aktion des Orgien Mysterien Theaters langsam in Unruhe versetzt. Seit einer halben Stunde ist nichts passiert. Der Chor der Universität Wien hat sich im oberen Stiegendrittel postiert und starrt Löcher in die Luft, nebenan warten Eimer voller Blut und Gedärme auf ihren Einsatz.
Da endlich schleppt eine Handvoll weißgekleideter Akteure einen ans Kreuz gebundenen Nackten heran und bahrt ihn in der Stiegenmitte auf. Mit vereinten Kräften wird ihm ein ausgeweidetes Schwein auf den Rumpf gewuchtet. Hilfreiche Hände reichen Kübel mit Innereien, die wiederum ins leere Tier gekippt werden. Jetzt betritt Meister Nitsch die Szene, fässchenförmig, rauschebärtig und schwarz gewandet wie ein draller kleiner Mönch. Statt des Kruzifixes trägt er ein Trillerpfeifchen um den Hals, in das er jetzt kräftig hinein bläst. Daraufhin walken und kneten ein Dutzend Arme den Schweinebauchinhalt, dass es nur so spritzt, und wenn man weit genug weg steht, sieht es so aus, als wühlten sechs Ärzte im Praktikum in den Eingeweiden des Heilands herum. Einer gießt dem Gekreuzigten dickflüssiges Blut über den Mund, dann nähern sich vom Treppenabsatz her Speerträger, die mit funkelnden Klingen auf den klaffenden Schweinebauch weisen. Der Chor haucht disharmonische Vokale, und vom Foyer her trötet die bumsfidele Blaskapelle «Venkovanka» Bierzeltweisen.
Tieropfer, Blutbilder, Nackerte
Der Dinosauerier des Aktionstheaters hat es geschafft. Nach gut 47 Jahren des immergleichen rituellen Theaters mit Tieropfern, Blutbildern und «Nackerten», nach Gefängnisaufenthalten in den sechziger Jahren und schweren Pornografie-, Tierquälerei- und Blasphemie-Anwürfen bis in die Gegenwart, aber auch nach wachsender Anerkennung im In- und Ausland bis hin zum österreichischen Staatspreis ist Hermann Nitsch endlich im hochkulturellen Nationalheiligtum seiner Heimat gelandet – dem tollkühnen oder auch nur lang genug abgewartet habenden Intendanten Klaus Bachler sei Dank. Die Pariser Oper hätte er sich gut vorstellen können, aber die Burg gehe auch in Ordnung, meint Nitsch am Tag vor dem großen Spektakel in seiner kargen Garderobe zwischen Generalprobe und Teambesprechung, begleitet von seiner engsten Entourage und einem Teller Debreziner. Was später der Herr auf der Feststiege sagen wird, scheint sich schon mal in einem Punkt zu bewahrheiten: Der Nitsch ist ein sehr gemütlicher Mensch.
Der Sohn einer armen Wiener Kriegswitwe war Anfang zwanzig und gelernter Grafiker, als er Ende der fünfziger Jahre seine ersten «Lammzerreißungen» in der Wohnung des Künstlerkollegen Otto Mühl durchführte. Der «vor- und nachsprachliche Urexzess», den seither sein Theater der «realen Ereignisse» vorsieht und den eine «analytische Dramaturgie» wenigstens auf dem Papier minutiös vorausplant, rührt damals noch kräftig an die Tabus des katholischen Österreichs. Dabei wird das zentrale Passionsmotiv – die symbolisch gekreuzigte Kreatur, der ein Becher Blut an die Lippen gesetzt wird – regelverstoßend (Schweineblut! Nacktheit!) und affirmativ (Ritual! Nonverbal!) zugleich verwandt. In Nitschs von C. G. Jung geprägtem Fünfziger-Jahre-Denken haben solche Kombinationen noch heute therapeutische Funktion: das Durchspielen mythische Archetypen soll Verspannungen lösen, Neurosen kurieren und Aggressionen ausleiten wie eine gute Entschlackungskur.
Doch Nitsch ist nicht nur ein Wiederholungstäter, der «wie Wagner und sein Ring oder der Goethe mit seinem Faust» eifrig sein Jugendwerk verlängert. Er gehört fest in den Kanon der Aktionskünstler, auf den sich auch Jüngere wie Christoph Schlingensief berufen. Und bei der Theaterwissenschaftlerin Erika Fischer-Lichte kann man nachlesen, dass seine Opferrituale viel Gutes bewirkten: Sie begründeten «Gemeinschaften» von Akteuren und Zuschauern, um religiöse und transzendente Ganzheitlichkeitserfahrungen zu machen, die in der modernen Industriegesellschaft nicht mehr so leicht zu haben sind. Stets zielten sie auf eine Verringerung, wenn nicht Beseitigung des Abstands von Kunst und Leben: Dass in dieser Fantasie vom Künstler als Lebensrevolutionär noch ähnlich viel totalitäres und autoritäres Denken steckte wie in der Gesellschaft, gegen die der Aktionismus sich seinerzeit richtete, scheint dagegen für eine «Ästhetik des Performativen» heute kaum relevant.Großräumige Prophylaxe
Auf den ideologischen Furor, der die Wiener Aktionisten in ihren Anfängen vorantrieb, blickt Nitsch mit mildem Lächeln zurück. «Schaun Sie. Man sagt, dass die Vögel im Park in der Großstadt viel lauter singen müssen als in der freien Natur. Und so war’s halt mit uns, dass wir jungen Künstler viel lauter schreien wollten als die Kunst, die vor dem Krieg war. Und natürlich wollten wir noch viel lauter schreien als jene verlogene Kunst, die während dem Dritten Reich war. Da kam es eben zu solchen extremen Forderungen.» Während bei Mühl daraus in den siebziger und achtziger Jahren das «Paradies-Experiment» der Kommune Friedrichshof hervorging und Ende der Achtziger erbärmlich scheiterte (Mühl wanderte wegen Pädophilie sieben Jahre in den Knast), versuchte Nitsch nie, den inszenierten Ausnahmezustand seines Orgien Mysterien Theaters in Alltagspraxis zu verwandeln. «Mich haben kurzräumig politische und gesellschaftliche Situationen nicht interessiert», sagt er nach einem Biss in sein Würstel. «Die interessieren mich auch heute nicht. Ich möchte vieles prophylaktisch anpacken. Und über allem steht dabei mehr oder weniger das Religiöse, oder sagen wir, die Philosophie. Umwälzungen, schöpferische Prozesse, die bis zum Entstehen von Galaxien reichen.» Entsprechend großräumig hat Hermann Nitsch seine Fleischtherapie angelegt: «Man kann es aufführen wie ein Shakespeare-Stück, 500 Jahre später. Oder 2000 Jahre später wie die griechische Tragödie.»
Bislang fanden die meisten von Nitschs Aktionen, die oft auf mehrere Tage hin konzipiert sind (vgl. TH 9/84), vor allem unter freiem Himmel statt. In Prinzendorf, eine gute Autostunde von Wien entfernt, wo der Künstler mit Ehefrau Rita und seinem Inner Circle in einem restaurierten Barockschloss lebt und ein perfekt organisiertes Büro Vermark-tung und Dokumentation des Nitsch-Werks mit allem professionellen und technischen Pipapo vorantreibt. Das Schlachtvieh, der Wein und die Trauben aber, die für die Zwei-, Drei-, einmal sogar Sechs-Tage-Aktionen gebraucht werden, stammen direkt von den umliegenden Feldern. Tags wird Kunst durchgeführt, nachts unterm Sternenhimmel gezecht, die Grillen zirpen, und der Misthaufen müffelt.
Schweindeln auslassen
Dass das an der Burg nicht klappt, stört Nitsch nicht weiter: «Mir ging es schon sehr früh um ein neues Theater, das die Bühne überwinden wollte. Ich wollte reale Geschehnisse. In den Manifesten habe ich immer geschrieben: Theater kann überall sich ereignen, auf einem Sportplatz, in einer Kirche, am Meer, in den Bergen – aber eben auch in einem Theater.» Dabei hat er als junger Mann das Burgtheater sogar besetzen wollen. «Rudolf Schwarzkogler wollte es mit Torf füllen, und ich wollt drinnen Schweindeln auslassen», hat er dem «Standard» verraten. Eine Niederlage oder späte Landung im Establishment sei sein Burg-Event deshalb aber keineswegs – im Gegenteil: ein Triumph. «Warum soll nicht nach fünfzig Jahren das Bessere am Burgtheater Platz haben?», kaut Nitsch. «Ich denke, dass mein Theater im Begriff ist, sich durchzusetzen. Warum soll nicht an dem Haus, in dem sonst das schönste Deutsch gesprochen wird, auch einmal nonverbales Theater aufgeführt werden?»
Nitschs engster Berater Giuseppe Zevola ist derweil auf der Garderobenpritsche eingenickt. Sein friedliches Schnarchen grundiert des Meisters Antwort auf die Frage danach, ob sein Theater der Intensität sich nicht gegen ein Theater des Denkens richte: «Dass die Sinnlichkeit immer abgewertet wird, das ist ein solcher Unsinn, dieser platonische Dualismus! Für mich ist Sinnlichkeit eine geistige Angelegenheit, die über das Bewusstsein ausgetragen wird.»«Des stinkt nach Weibern!»
Mit dem Vorsatz, der Sinnlichkeit selbstbewusst in die Augen zu blicken, lässt man sich also am nächsten Tag in aller Ausführlichkeit durch das von Nitsch und seinen Jüngern besetzte Theater treiben. Selbst die Bühne steht dem Publikum offen. Doch der «Urexzess» hat die eine oder andere Vorsichtsmaßnahme ergreifen lassen: Die Bestuhlung im Zuschauerraum ist vollständig abgedeckt, Plastikfolien schützen die kostbaren alten Tapeten, Putzfrauen feudeln der kleckernden Prozession hinterher.
Das Programmheft vermerkt überdies, dass weder Nitsch noch das Haus für verunreinigte Kleidung haften; Fotografieren und Filmen sind streng verboten und den drei Kamerateams vorbehalten, die die Aktion im Auftrag des Künstlers aufzeichnen. Der gepflegte Heurigenrausch, den man sich zulegen kann, ist nicht im Eintrittspreis inbegriffen, und auch die Akteure selbst scheinen sich im komplizierten logistischen Ablauf nicht wirklich der Sinnenekstase ausliefern zu können. Nitschs Co-Regisseure, junge Männer mit Headsets und daumendicken Skripts in den Händen, wirken eher wie angespannte Bauleiter als weihevolle Priester. Immer wieder gibt es Leerlaufstrecken und Verzögerungen, Pannen etwa beim Aufspannen des tonnenschweren Stiers. So mancher macht es sich da zwischendurch im Café Landtmann bequem.
Vielleicht bleibt auch deshalb der irgendwie insgeheim doch erwartete Skandal aus. Die beiden zum Schutz des umstrittenen Künstlers engagierten hessischen Bodyguards schauen schon nach zwei Stunden gelangweilt auf die Uhr und witzeln mit Blick auf ihr Abendbrot: «Hoffentlisch lassen die aach die Lendschen in Frieden.» Vor dem Hintereingang frieren derweil drei Tierschützer hinter einem Protesttransparent. Ob ihnen klar ist, dass selbst überzeugten Schnitzelessern an diesem Nachmittag wenigstens kurzfristig der Appetit vergeht?
Drei Schweine und einen Stier hat Nitsch kurz vor der Aktion schlachten lassen, der Wiener Fleischermeister Edi Reiss ist mit von der Partie. Doch der Anblick geschlachteter Tiere ist nicht das Problem: Sie wirken, genau wie das reichlich verspritzte Blut, auf der ganz mit weißem Leinen verkleideten Bühne sogar sehr dekorativ. Schwieriger sind die Bottiche voller Blut und kotgefüllter Gedärme, deren Gestank auch das Weihrauchfass nicht gewachsen ist. So schlägt der warme, süße, fischig-faulige Blutdunst empfindlicheren Gemütern gnadenlos auf den Magen. Eine Wienerin jenseits der Menopause kommentiert barsch: «Des stinkt nach Weibern hier!»
Doch im Großen und Ganzen steht das Wiener Publikum seinem Staatspreisträger aufgeschlossen bis freundlich ratlos gegenüber. Die einen diskutieren mit Ernst und Engagement die alte Frage, wo die Kunst aufhört und der Blödsinn anfängt. Die anderen sind bereits Fans («Es ist, was es ist!») oder freuen sich, wie der Kritiker der «Süddeutschen Zeitung», wenn einem alten Staatsfeind doch noch Recht wiederfährt: «Die Aktionisten haben so viel gelitten in diesem Arschland, die dürfen sich auch mal freuen!»
Nach vier Stunden erreicht die 122. Aktion den ersten von zwei Höhepunkten. Die Schweine sind verbraucht und liegen schlaff und unbeachtet auf der Hinterbühne, mindestens ein Dutzend Akteure hat die Bluttaufe bereits hinter sich, als mit dem frisch geschlachteten Stier das Spektakel aufs nächsthöhere Level fährt. Das Tier wird an den Hinterbeinen in einem riesigen Holzrahmen aufgespannt, so dass sich sein längs gespaltener Leib obszön wie eine Fleischgruft über den Schlachtgesellen wölbt, die wie Requisiteure in einem Splatterfilm über die schon ziemlich vollgesaute Bühne wuseln.
Die jetzt hereingetragenen «passiven Akteure» werden samt Kreuz oder Brett in den Stierrumpf gehalten, dann folgt das bekannte Procedere: Innereien werden auf nacktes Menschenfleisch geklatscht, ayurvedische Blutgüsse stoisch über Lippen und Kinn geschüttet. Wer besonders gläubig ist, schluckt tapfer. Doch diesmal kann das Publikum dicht an den Stier herantreten und sich vom Blutdunst überwältigen oder einlullen lassen. Dazu schwellen die sakralen Cluster und donnernden Percussions der Jungen Philharmonie unter der Leitung von Andrea Cusumano dramatisch an. Doch der einzig ekstatisch Brüllende ist ein geistig Behinderter, den auch vielleicht nur die grabbelnden Hände kitzeln; und mit der schönen Schwangeren wären die Helfer auf glitschigem Blutgrund um ein Haar ausgerutscht. Nitsch selbst dankt mit emporgerecktem Daumen.Rugby zum Schluss
Es geht auf zehn Uhr zu. Jetzt hilft nur noch Alkohol. Oder ein Marsch an der frischen Luft, wie ihn das Orgienteam samt Totem-Stier eine weitere zähe Stunde lang um die Burg unternimmt. Wer erschöpft ist, sieht sich das Ganze bequem vom Rang aus auf der Videoleinwand an und kehrt erst zum Showdown wieder in den blutgetränkten Emergency Room zurück. Dort hat man den Stier in der Bühnenmitte drapiert. Mit Dutzenden Wannen voller Trauben und Tomaten beschüttet, gleicht die schön gebettete Leich einem überdimensionalem flämischen Stillleben.
Drumherum stellen sich die Performer in einen Kreis, stürzen sich auf Kommando Richtung Opfertier, umarmen einander wie Rugbyspieler und pressen sich zur Mitte hin. Von außen schütten die Kommandeure Blut in großen Kaskaden auf den tobenden Haufen, Schweinelungen fliegen durch die Luft, als wären’s Frisbeescheiben, Orchester und Chöre heben zum letzten, diesmal harmonischen Crescendo an, bis endlich alle alles geben – und Hermann Nitsch ein Zeichen macht: Abbruch, Musikstopp, Erleichterung. Und das Ensemble applaudiert sich selbst.
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