Breitschultrig und schuppenkleidig

Das Regietrio ACE bringt am Theater Bern Kim de l’Horizons «Die kleinen Meerjungraun» zur Uraufführung – der Stückabdruck liegt diesem Heft bei

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Um dazuzugehören, muss die kleine Meerjungfrau ihren Körper verstümmeln und aufs Reden verzichten. Was für ein Bild! Hans Christian Andersens schmerzhafte Feststellung von 1837 ist bis heute nicht überholt. Auch Kim de l’Horizons Meerjungraun (ohne «f») siedeln noch im Spalt zwischen Konformität und Selbstverleugnung. Bloß sind sie heute gewarnt.

Ursu-la-Sorcière beispielsweise will sie von der Menschwerdung eher abhalten.

Das Hexenwesen ist keine selbstsüchtige Dragqueen wie noch in den «schrottigen Propagandafilmen» von Disney (O-Ton Ursu), sondern vielmehr eine naturmütterliche Macht. Gut und Böse sind da möglicherweise gar nicht die Kriterien. Unter Wasser wird die Zauberin auch mal liebevoll als Ursu-la-Saucière verspottet, «the bad witch herself». Sie spukte schon in das Stück hinein, das Kim de l’Horizon vor drei Jahren als Hausautor:in für die Bühnen Bern verfasste: «Hänsel & Greta & The Big Bad Witch», ein öko-queeres Märchen, in dem die Klimajugendlichen Hänsel und Greta sich mit der Hexe verbünden, um auf High Heels die Welt zu retten.

Hexen sind bei Kim de l’Horizon politische Wesen – mehr Kraft als Figur –, die für Verwandlung stehen und aus der Verwandlung ihre Macht schöpfen. Gegenüber den Festschreibungen repräsentiert das Hexische, was sich entzieht, die Existenz im Dazwischen, auf der Hecke, in der Transformation. Es erinnert daran, dass Menschen sich wandeln können und mit ihnen die Verhältnisse.

Andersens Märchen wird heute meist als Erzählung eines unterdrückten Coming-outs gelesen. Andersen schrieb es sich 1837 nach einer Liebesenttäuschung vom Herzen: Sein versteckter Geliebter Edvard Collin eröffnete ihm, dass er eine Frau heiraten werde. Andersen selbst war diese Meerjungfrau. Schon Hans Mayer verweist in seinem «Außenseiter»-Werk darauf, wie Andersen in den Märchen über sich und sein existenzielles Anderssein fast ohne Verhüllung sprechen konnte: «Wesen aus anderem Element, schlecht gegossen, Schwan unter den Enten im Teich.» Ans 19. Jahrhundert erinnert auf den ersten Blick nun auch das Bühnenbild in der Berner Vidmar-Halle. Nur ist das Andere nicht mehr als das Defizitäre markiert, sondern als Utopie. Ein bemalter Prospekt mit einem prächtigen Landschaftspanorama, Wasserläufe, die sich ungedämmt ihren Weg bahnen, davor ausgestopfte Waldtiere. Es ist wunderschön anzusehen, wild-romantisch, aber eben: Stillleben, Nature morte. Vielleicht müssten wir es wieder zum Leben erwecken?

Das Rau und der Marcomann
Im Faltenwurf der schlafenden Wildnis harrt der Widerstand. Darauf zielt Kim de l’Horizons Märchen-Neudeutung ab. Das «Meerjungrau» ist keine Frau, schon gar keine keusche Jungfrau, sondern ein Rau. Das ist in Horizons Mythologie eine Art Elfe oder Nymphe, im konkreten Fall eine Wassernixe. Das Raue klingt an, das Pelzige und Ungezähmte, das unan -gepasst Naturhafte. Das Gegenteil der Glätte. Auch Grimms Allerleirau wird später noch auftreten, die junge Frau, die sich vor der sexualisierten Gewalt ihres Königsvaters in Tierfelle und ein Aschenbrödel-Dasein rettet. Sie ist eine verständigere Cousine der Meerjungraun und hilft ihnen mit «Wiederanbindungsmagie», der Neuverknüpfung mit dem Vergessenen.

Das Meerjungrau ist ja auch erst fünfzehn, in dem Alter, in dem es erstmals an die Meeresoberfläche stoßen darf. Da sieht es den Marcomann, glatt wie eine Marmorstatue: «Haare blond, Augen blau, Schultern – Honigmelonen / Und vor allem GERADE BEINE / SO GERADE ICH WERD GANZ SCHRÄÄG DANEBEN». Statt einer Geschichte von Märchenfiguren erzählt Kim de l’Horizon nun eine Geschichte von gesellschaftlichen Strukturen. Der Prinz steht darin für das White Male Privilege, cis-männlich, weiß, heterosexuell, einer, der ohne Furcht auf die Straße gehen kann. Das will das Meerjungrau auch sein.

Dafür gibt es seine Natur auf. «Ich schaue meinen Körper an und merke, dass ich mich so angepasst habe. Erst langsam bin ich – in Schüben – dabei, meinen Körper zu spüren, und spüre, dass ich mich so gebe, mein Leben lang so gegeben habe, wie es das Gegebene gutheißt.» Von dieser traurigen Erkenntnis geht das Stück aus. In Rückblende (dank Allerleiraus Wiederanbindungs-Rewind) schaut es zurück auf den Selbstverleugnungsprozess im Anpassungsdruck und am Schluss voraus auf eine Gesellschaft ohne Gleichschaltung, in der nicht nur ein Marcomann sich im öffentlichen Raum furchtlos bewegen kann.

In einem fulminanten – fulminant ungeschützten – Monolog beschwört die Schauspielerin Lucia Kotikova zum Ende ein neues Zeitalter des Wassers: «Wir sind nicht alle gleich. Auch wir Fischigen sind sehr unterschiedlich wässrig. Und die Vernünftigen werfen den Wässrigen, den Monstern schon vor, dass wir die Unterschiede, an denen wir leiden, selbst hervorbringen, weil wir sie benennen. / An manchen Orten sind die Dämme schon gebrochen. Und auch hier, in einer der festesten Festungen des weißen Steines, bröckeln sie.»

Neues Denken, neue Sprache
Er liegt da schon die ganze Zeit, der weiße Steinmann, in marmorner Blöße dahingestreckt wie die Liegefigur auf einem Sarkophag. Der Schauspieler Jonathan Loosli ruht während der Dauer des Stücks reglos am Boden, manche im Publikum halten ihn zunächst wohl tatsächlich für eine Skulptur, wie das Kichern zeigt, als er auftaut. Erst zum Vorstellungsende wird er in ein Kleid gesteckt und «breitschultrig und schuppenkleidig» in die Berner Nacht geschickt. Was zunächst als Idee überzeugender scheint als in seiner Durchführung – ist Loosli doch mit Kamera und Zuschauertross so stark als «Event» geframed, dass sich kaum jemand an ihn heranwagen wird (was sich bei seiner Statur jeder Halbstarke ohnehin zweimal überlegen würde), und sieht er im Kleid, aber ohne Schminke und Perücke doch nicht so sehr aus wie eine Dragqueen, sondern vielmehr, als ob er gerade von einem Junggesellenabschied käme. Aber das ist ja genau der Punkt.

Der Transformation unterworfen ist auch die Rede: «Ich schmecke plötzlich die Sprache. Ich sage: ICH HABE MICH SO GEGEBEN, WIE ES DAS GEGEBENE GUTHEISST. Und dieser Satz rostet. Er rostet in meinem Mund», gerade -so wie die Worte, die Hofmannsthals Lord Chandos im Mund zerfallen «wie modrige Pilze». Das neue Denken erfordert eine neue Sprache – eine bildhafte, bedeutungsspielerische, wortschöpferische Sprache, die ihre Wahrheiten in den semantischen Ritzen findet und dabei den Humor nicht verliert. Im Gegenteil. Insbesondere die Beobach -tungen der Heteronormativität, der «Beinigen» und ihrer konventionellen Beziehungen mit «zwei identischen Nachttischen» sind entspannteste Satire.

Horizons Text ist kunstvoll formuliert, dicht (nur manchmal etwas überreichlich), bei aller Ernsthaftigkeit des Anliegens ausgesprochen witzig – und eine ganze monologische Menge für die drei Spieler:innen Claudius Körber, Lucia Kotikova und Linus Schütz, die ihn mit Verve meistern. In einer Inszenierung des Trios ACE – Alia Luque (Regie), Christoph Rufer (Bühne), Ellen Hoffmann (Kostüme) –, die sich auf den Text konzentriert und seine Sprache durchhörbar macht. Ein Plädoyer gegen die Anpassung an ein toxisches System – mit ein bisschen Hexerei.


Theater heute November 2025
Rubrik: Das Stück, Seite 48
von Andreas Klaeui

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