Bis auf die Knochen
In der ersten Szene von Tschechows «Die Möwe» erklärt der arme Dorflehrer Medwedenko der Tochter des Gutsverwalters, Mascha, zum vermutlich x-ten Mal seine große, aber leider völlig unerwiderte Liebe. Mascha weist ihn routiniert, aber freundlich ab. Mit dieser Szene springt Tschechow ansatzlos ins Stück, und sie ist in unzähligen «Möwe»-Inszenierungen als unverbindliches Geplänkel vorübergezogen mit demütigen Medwedenkos, die sich buckelnd ihre Abfuhr holen.
In Jürgen Goschs vorletzter Inszenierung brüllt Christoph Franken, eine korpulente, schwitzende Erscheinung, Meike Droste aggressiv-fordernd an, packt sie dann bei der Liebeserklärung im Nacken und schüttelt sie kräftig durch. Meike Drostes Mascha wundert sich darüber nicht weiter, und wenn sie wieder gerade schauen kann, zieht sie ihre Schnupftabakdose und bietet ihrem Peiniger eine Prise an. Gleichgültiger kann man nicht auf Gewalt reagieren, gewalttätiger einem Liebenden nicht seine Gleichgültigkeit bekunden. Die Sache mit der Tabakdose steht übrigens genauso im Text.
Zu Beginn des zweiten Akts von «Onkel Wanja», Jürgen Goschs vorheriger Inszenierung, kann Professor Serebrjakow, der den Sommer auf seinem Gut verbringt, ...
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Theater heute August/September 2009
Rubrik: Jürgen Gosch 1943-2009, Seite 24
von Franz Wille
Ihren größten Trumpf spielten die Wiener Festwochen 2009 erst zum Schluss aus. Die letzte Produktion des Festivals war als erste ausverkauft gewesen und auch von Menschen mit Spannung erwartet worden, die nicht zum engeren Kreis der Theaterinteressierten gehören. Wien fieberte der Weltpremiere einer «Othello»-Inszenierung von Peter Sellars entgegen. Warum, ist...
Das Signal zur Revolution klingt müde: Rechts an der Rampe dringt aus einem Stutzflügel ohne Pianisten langsam und monoton die Melodie José Afonsos «Grândola, Vila Morena», das in der Nacht vom 24. auf den 25. April 1974 vom Radio übertragen so schwungvoll den Aufbruch zur Nelkenrevolution in Portugal gab. Hier schreibt man den 10. Juni 2009 im schweizerischen...
Eine gehörige Portion Frechheit gehöre schon dazu, räumt Tristan Vogt ein und ordnet auf dem wackligen Campingtisch die Welt neu. Es ist Kafkas Welt in diesem Fall, aber das sieht man der Szenerie eigentlich gar nicht an. Klischees haben auf der Resopalplatte sowieso keinen Platz. Das Schloss, um das es hier gehen soll, muss man sich auch denken; das Dorf besteht...