Zeitarbeit

Im Profidasein vergeht Jahr um Jahr mit der Angst vor Nicht- Verlängerung. Problematisch, sagt der Jurist Friedrich Pohl

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Professionelle Tänzer*innen arbeiten durchweg befristet mit der Unsicherheit, ihr künstlerisches und soziales Zuhause von einem aufs nächste Jahr zu verlieren. Diese Befristung prägt das Verhältnis zu Vorgesetzten und die Machtstruktur an den meisten subventionierten Tanzbühnen. Sie ist außerdem das Ergebnis eines komplexen Rechtssetzungsprozesses, bei dem verschiedene Parteien um die Verteilung von Rechten und Pflichten – also: Macht – gerungen haben.

Dieser Rechtssetzungsprozess wird nun mit nie dagewesener Dringlichkeit in Bewegung gebracht: Die einschlägigen Gewerkschaften (s. S. 70ff) haben im Juni 2024 den seit Jahrzehnten bestehenden Tarifvertrag NV Bühne gekündigt. Sie verdeutlichen so, dass sie die tarifliche Verteilung von Rechten und Pflichten nicht länger als gerecht ansehen – inklusive Nichtverlängerungsrecht. Das Nichtverlängerungsrecht hat es ermöglicht, künstlerisches Bühnenpersonal de facto bis zu 19 Jahre lang jeweils für nur eine Theatersaison zu beschäftigen. Was den Standard – unbefristeter Arbeitsvertrag in den meisten Berufen – aushebelt. Über Jahrzehnte hinweg wurden per NV Bühne gesetzliche Sonder-Vorschriften ausgeschöpft. Inzwischen gibt es ernstzunehmende Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit dieser Praxis.

Die Gewerkschaften verfolgen mit der Vertragskündigung das Ziel, die Institution Bühne zu modernisieren. Sie wollen die Machtstrukturen der Häuser neugestalten, um gewaltfreies Arbeiten zu ermöglichen. Für die Transformation der Institution Bühne wird die Befristung samt «Nichtverlängerungsannex» eine zentrale Stellschraube sein, da sie ein Grundpfeiler für die Organisations- und Finanzierungsstruktur fester Ensembles ist. Damit kommt die Systemfrage auf den Tisch. Wichtig, daran zu erinnern, dass wir im Recht (anders als in der Naturwissenschaft) nicht um eine möglichst genaue Abbildung unserer natürlichen Umgebung ringen (respektive die Deutung dessen, was wir Wirklichkeit nennen). Vielmehr schaffen wir uns mit Rechtsbeziehungen und -setzungen eine originär menschengemachte Umgebung und organisieren so unser Zusammenleben. Das Recht sollte dem folgen, was wir für ein werthaltiges System halten – nicht andersherum.

Es ist häufig zu hören, dass ohne Befristung das Ensembletheater aufgrund begrenzter finanzieller Ressourcen zusammenbräche. Eine hinreichend abwechslungsreiche Besetzung erfordere eine höhere Anzahl von Ensemblemitgliedern – also höheres Budget. Heißt im Umkehrschluss: Die Befristung ist Voraussetzung für die Finanzierbarkeit beständiger Ensemblestrukturen. Aber das europäische Recht verwirft finanzielle Argumente als sachlichen Grund für solche Befristungen. Entweder verändern wir die europäischen Rahmenvorgaben zu Lasten der Arbeitnehmer*innen, oder wir gehen mit dem prognostizierten, wenigstens behaupteten Finanzierungsdruck anders um.

Laut § 14 Teilzeit- und Befristungsgesetz – der Lesbarkeit halber sei auf Details verzichtet – rechtfertigt die «Eigenart der Arbeitsleistung» eine Befristung. Gerichte haben beschrieben, dass Intendant*innen ihre künstlerischen Vorstellungen mit dem ihrerseits als geeignet angesehenen künstlerischen Bühnenpersonal verwirklichen können, und das Publikum ein Abwechslungsbedürfnis hat. Diese richterliche Wertung gilt pauschal für alle darstellenden Künstler*innen. Mit Blick auf den Tanz ist es aber verwunderlich, dass sich eine derart pauschale Beschreibung der «Eigenart der Arbeitsleistung» etablieren und jahrzehntelang bis heute halten konnte. Zur Eigenart der Leistung von Tänzer*innen gehört es gerade, als Ensemble-Körper zusammenzuwirken und einen gemeinsamen Bewegungsduktus zu entwickeln. Das gilt nicht nur für den weißen Akt des klassischen Balletts, sondern genauso für zeitgenössische Solisten-Ensembles. Dieser «Ton» einer Kompanie kann sogar zum entscheidenden Faktor dafür werden, dass sie selbst mehreren Leitungswechseln ohne erheblichen Qualitätsverlust standhält – siehe etwa das Staatsballett Berlin. Täglich trainieren Tänzer*innen, gemeinsam zu atmen und sich untereinander allein durch Bewegung wahrzunehmen. Damit sind sie Orchestern – «Klangkörpern» – und Chören nicht unähnlich, wo befristete Arbeitsverhältnisse nach der Probezeit nicht bekannt sind. Die Programmatik gerade größerer Häuser erfordert keinen jährlichen Austausch des Ensembles. Das Repertoire an sich ist meist schon so breit gefächert und das Bedürfnis an personeller Flexibilität so hoch, dass ohnehin immer diversere, universaltalentierte, wandelbare Persönlichkeiten angestellt werden. Je größer das Ensemble, desto umfangreicher die solistische «Farbpalette» und umso geringer das Auswechslungsbedürfnis.

Die Arbeitsleistung der Tänzer*innen hat sich in den letzten Jahren zudem in puncto künstlerischer Anspruch und Niveau erheblich verändert. Das Repertoire von heute und der immense Druck eines kleinen aber globalisierten Arbeitsmarktes verlangen nach physischer Extremleistung und hoher Variabilität, was Stile und Bewegungssprachen betrifft. Kollaborative Kreationsprozesse sind zum Alltag geworden, Tänzer*innen häufig aufgefordert, choreografische Angebote zu machen. Vermittlungsaufgaben und manchmal auch Präsenz auf Social Media werden ihnen ebenfalls überantwortet. Kurzum: Es ist unbedingt zu diskutieren, inwieweit die hochgeschraubte Polyvalenz der Tänzer*innen das Auswechslungsbedürfnis der Häuser erheblich schmälert. Abgesehen davon stellt sich die Frage: Ist nicht die künstlerische Freiheit der Tänzer*innen ebenso schützenswert und geschützt wie die der Intendant*innen?

Das Finanzierbarkeitsargument ist auch jenseits seiner rechtlichen -Irrelevanz fragwürdig. Wir könnten uns einerseits (auch in diesen schwierigen Zeiten) geschlossen für höhere Kulturbudgets einsetzen. Andererseits gibt es etliche Stellschrauben, um Budget umzuschichten und die Finanzierung fester, vor allem diverser Tanzensembles zu ermöglichen. So könnten etwa die Anzahl der Produktionen pro Saison reduziert, Quoten für einen variablen Gästepool festgelegt werden. Befristung auf Grundlage der «Eigenart der Arbeitsleistung» könnte bei kleineren Ensembles anhand klar definierter Gruppenstärken zum Einsatz kommen. Gastier- oder Aussteigerjahre nach skandinavischem Vorbild, in denen Künstler*innen für bestimmte Zeit aus dem unbefristeten Arbeitsverhältnis mit der Option des Wiedereintritts aussteigen, brächten Beweglichkeit ins System. Und wer sagt, dass Tänzer*innen bei unbefristeten Verträgen ihr gesamtes Arbeitsleben an einem einzigen Haus bleiben wollen? Die unausweichliche Transition in andere Berufe birgt enormes Potential für eine natürliche Fluktuation. Anreize, sich eine zweite Berufsperspektive zu erschlie-

ßen, könnten über mehr Freizeit und mehr Unterstützung bei der Umschulung gesetzt werden. Helfen könnten ganz generell: weniger Produktionen, geringeres Arbeitspensum, mehr Planbarkeit, zielgenauere Disposition und Probenorganisation, gebündelte und produktionsbezogene Vorstellungswochen, Transition-Karenzen, inhäusige Praktikumsangebote, Teilzeitmodelle für aussteigende Tänzer*innen, Anbindung an staatliche Förderprogramme dualer Karrieren … und vieles mehr.

Die Befristung an Bühnen bleibt das Ergebnis einer vor Jahrzehnten gesetzten Wertung. Angesichts der längst akademisch diskutierten Funktions- und Legitimationskrise unserer Bühnen ist es fatal, dass zuletzt zwei Instanzen Schiedsgerichtsbarkeit (sprich: Bühnenschiedsgericht mit bühnen- und tanzkundigen Beisitzer*innen) die Eigenart tänzerischer Arbeitsleistung keiner Neubewertung unterzogen haben. In etlichen jüngeren Urteilsschriften ist eine differenzierte Überprüfung der für die Befristung und Nichtverlängerung so entscheidenden Eigenart der tänzerischen Arbeitsleistung ausgeblieben. Die Spruchkörper scheinen ihre Mitverantwortung bei der historisch bedeutsamen Transformation unserer Kulturlandschaft zu verkennen. Für das Bundesarbeitsgericht, das Bundesverfassungsgericht oder den Europäischen Gerichtshof bedeutet das: fundamentale Vorarbeit unterbleibt. Denn es ist die Schiedsgerichtsbarkeit, die Einzelfallumstände und kunstfachliche Kenntnisse in den Instanzenzug einzubringen hätte.

Lohnend wäre, die Urheber*innen-Rolle von Tänzer*innen ins Bewusstsein zu rufen: Sie bringen Ideen ein, in jede Kreation, sie gestalten und gestalten mit. Es gilt, immer wieder zu hinterfragen und auszuhandeln, ob Wertungen noch Bestand haben, weiterhin dem Zeitgeist entsprechen oder verändert werden sollten. Wir entscheiden, wie wir mit dem Tanz heute und in Zukunft umgehen wollen. Und das heißt: zuletzt entscheiden die Künstler*innen über Nutzen, persönliche Kosten und den unvergüteten Einsatz persönlicher Ressourcen, den ihnen das Ensembletheater derzeit abverlangt.

Der Autor war Tänzer, u. a. beim Ballett am Rhein, er hat das Tänzer*innennetzwerk dancersconnect mitbegründet und ist inzwischen Jurist


Tanz Jahrbuch 2024
Rubrik: Macht, Seite 82
von Friedrich Pohl

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