Inszenierung des Jahres: Anne Teresa de Keersmaeker «exit above»

Shakespeares «Sturm» als apokalyptisches Menetekel: eine grandiose Umsetzung unserer nur allzu berechtigten Ängste

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«Der Sturm» ist Shakespeares letztes Werk. Damit verabschiedete sich der große Dichter, gänzlich abgeklärt, von der Bühne. «I‘ll break my staff», lässt er sein mutmaßliches Alter Ego Prospero am Ende resigniert sagen, wenn der seinen Zauberstab zerbricht. Der Magier verzeiht seinen Feinden, befriedet die Welt, dann wählt er den «exit above» – so die Regieanweisung Shakespeares. Noch einmal hatte der berühmte Engländer gezaubert. Dann zog er sich zurück und starb nur drei Jahre später.

Wenn Anne Teresa De Keersmaeker sich in ihrer jüngsten Produktion «EXIT ABOVE after the tempest» auf diese Komödie bezieht, muss man ihre in mehrfacher Hinsicht bemerkenswerte Performance als ein getanztes Mahnmal von brennender Aktualität verstehen: Gefahr ist im Verzug, unsere Erde wird heimgesucht von einer Klimakatastrophe. Stilistisch markiert dieses Werk eine neue Entwicklung, ästhetisch leuchtet sie von innen. Es sind zwölf sehr junge Tänzer*innen, durch die die flämische Ikone des Minimal Dance ihre Botschaft sendet. Diese

Klimakämpfer*innen kleben sich nicht am Boden fest, sondern bewegen sich intensiv, und zwar hinreißend. Nachdem die Sängerin Meskerem Mees mit Walter Benjamins Engel der Geschichte die Trümmerberge dieser Welt aufgerufen hat, zieht Sturm auf. Ein weißes Segel bläht sich in geradezu skulpturalen Formen. Wunderschön. Solal Mariotte setzt darunter zu einem einsamen Solo an wie eine Schicksalsfigur, als könne er kraft seiner Virtuosität den Planeten noch retten. Seine Breakdance-Moves und Spins treibt der Gitarrist Carlos Garbin mit Elektrosounds an. Der Wind bläst immer heftiger.

Als er abgeklungen ist, treten die übrigen Tänzer*innenauf und blicken minutenlang ins Publikum. Nicht mal anklagend. Als wollten sie sagen: «Wir sind voller Lust auf das Leben. Bitte tut etwas, damit wir eine Zukunft haben.» Ihre Energie stellen diese starken Persönlichkeiten umgehend unter Beweis. Gemäß De Keersmaekers Grundsatz «My walking is my dancing» schreiten, schlendern, schlenkern sie über die von geometrischen Linien überzogene Bühne: vorwärts, rückwärts, wenden, vorwärts, rückwärts – später auch in Ellipsen und Kreisen. Diese Walks sind minutiös gearbeitet zum ersten Blues-Song, den Garbin und Mees anstimmen. Federleicht und so lässig, wie nur Anne Teresa De Keersmaeker sie zu choreografieren vermag. Ihre kleinen Beckenschwünge sind umwerfend – supercool. Immer komplexer, immer rasanter und raffinierter entfalten sich die Bewegungsmuster und Konstellationen, während die Stimmungen unter den musikalischen Rhythmen wechseln. Die herausragende Meskerem Mees singt und tanzt nicht nur parallel, sie hat auch als Komponistin die «Walking Songs» aus den Anfängen des Pop und Blues bearbeitet. De Keersmaeker arbeitet theatraler als gewohnt – die Folgen des Klimawandels wie Trockenheit, Überflutung oder Hitzewellen werden angedeutet, spürbar. Die Choreografie steigert sich in einen kollektiven Rausch und vereint die Performer*innen in einer Gemeinschaft als letzter Flucht. Diese Dringlichkeit – und Schönheit – berührt.

Ex-Mitarbeitende von Anne Teresa De Keersmaeker haben eine Machtmissbrauchs-Debatte angestoßen. Die Choreografin selbst schweigt dazu. Wir halten es hier mit dem Grundsatz der Trennung von Werk und Autor*in. Die tanz-Redaktion


Tanz Jahrbuch 2024
Rubrik: The winners are, Seite 132
von Bettina Trouwborst

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