Wie Tanz entsteht
Was für ein trauriger Mensch! Wir lernen John Cranko, den Mann mit den schwermütigen Augen, in einem Flugzeug kennen, und nein, es ist nicht der fatale Flieger, in dem er 1973 über dem Atlantik stirbt. Im schwarz-weißen Pepita-Jackett, das er so liebte, reist er zum ersten Mal von London nach Stuttgart, mit seiner Ankunft beginnt Joachim A. Langs Filmbiografie über den legendären Choreografen. Sie beginnt auch mit Johannes Brahms: das Andante des zweiten Klavierkonzerts, die Musik zu «Initialen R.B.M.E.
», zieht sich als elegisches Leitmotiv durch die gesamten zwei Stunden, steht für eine nie endende Einsamkeit.
Der Stuttgarter Regisseur und Filmprofessor hat einen Ballettfilm gedreht, in dem es einmal nicht um die Klischees von Ruhm und Aufstieg geht, sondern um das Entstehen von Tanz. Wie werden Gedanken und Gefühle zu Bewegung, wie lässt Musik Bilder im Kopf eines Menschen entstehen, die er gemeinsam mit seinen Tänzern im Syllabus einer hochartifiziellen Kunst umsetzt, um dann doch so unmittelbar und direkt zu den Menschen zu sprechen – genau das zeigt «Cranko». Die bis ins Detail recherchierte Filmhommage, deren Buch von tiefer Liebe des Regisseurs zu seiner Titelfigur zeugt, dürfte das erste echte Biopic über einen klassischen Choreografen sein und erzählt die knapp 13 Jahre, die Cranko in Stuttgart Ballettgeschichte geschrieben hat. Seine Kindheit in Südafrika wird in wenigen, prägnanten Rückblicken angedeutet, die Londoner Zeit kaum erwähnt. Fast ununterbrochen zeigt die Kamera den faszinierenden Cranko-Darsteller Sam Riley, oft in Großaufnahme. Bis auf wenige Konstanten wie Crankos Muse Marcia Haydée und die Kompanie umgibt den Choreografen eine Vielzahl von Nebenfiguren. Obwohl sie bis in kleinste Rollen hinein mit bekannten Film- und Fernsehnamen besetzt sind, könnte ihre Menge für balletthistorisch nicht Bewanderte doch ein wenig verwirrend sein.
In einem 1960er-Jahre-Ambiente aus Hippie-Farben und deutscher Altlasten-Holztäfelung entsteht das Porträt eines geliebten Außenseiters, eines vom Ballett Besessenen, der ständig raucht und zu viel trinkt, der rosa Anzüge trägt und gern prollige Südländer zu seinen Geliebten macht. Einerseits weint dieser John Cranko, wenn er seinen Tänzern auf der Bühne zuschaut, andererseits kann er ihnen harte, verletzende Worte an den Kopf werfen, nur um sie zu besseren Künstlern zu machen. Riley, der schon oft geheimnisvolle Einzelgänger spielte, zeigt den Choreografen als einen gefährlich verletzlichen, extrovertierten Melancholiker, um den sich viele Freunde sorgen und der doch immer einsam bleibt, immer einen Schritt weit weg ist. Genau wie der echte Cranko spricht sein Darsteller mit heller Stimme und britischem Akzent. Selbst das Choreografieren glaubt man ihm auf Anhieb, wenn er mitten unter den Tänzern des Stuttgarter Balletts herumspringt, ihnen mit dem gesamten Körper seine Ideen vermittelt – und endlich einmal glücklich lacht.
Muse und Madonna
Crankos Schaffensprozess wird nicht dokumentarisch gezeigt, sondern mit surrealen Mitteln, als unmittelbare Wechselwirkung zwischen Leben und Kunst. Manchmal taucht die Kamera in seine Augen ein, in seine nächtlichen Visionen. Alles wird ihm zu Tanz: Beim einsamen Spaziergang im Schlossgarten sitzen die zwei Clowns aus «Lady and the Fool» auf einem Bänkchen, der Sirtaki beim griechischen Wirt mutiert zur hereinstürmenden Landjugend in «Onegin», der neue Freund Alex – endlich ein Feingeist! – schaut über Crankos Schulter in den Spiegel, exakt wie Onegin bei Tatjana. Schon als Kind bastelt der kleine John, allein gelassen von der kalten Mutter, aus Papierfigürchen die spätere Szenerie von «Opus 1», diesem kurzen Einakter, der von einer mütterlichen Gefährtin und ihrem Verlust erzählt. Vor dem einsamen Stuttgarter Opernhaus tanzt der Solist aus dem dritten Satz der «Initialen R.B.M.E.» ins Bild, dem dann im Ballett die ersehnte Geliebte und Madonna erscheinen wird: Marcia Haydée.
Mit der Ballerina verbindet Cranko im Film eine starke, pure Liebe, die eher in Blicken entsteht als mit Worten. Genau wie Romeo in seiner Adaption des Klassikers spielt der Choreograf unbewusst mit den Haaren seiner Tänzerin, wenn sie ihn mit den Worten «Du hast uns alle geschaffen» zu trösten versucht. Elisa Badenes, die beim Stuttgarter Ballett sämtliche Haydée-Rollen interpretiert und doch mädchenhafter wirkt als die große Tragödin, wird mit ihrer sanften Natürlichkeit zu einer Muse, die noch keine Diva ist, glühend auf der Bühne und unerwartet still als ein ruhender Pol in Crankos Leben. Der andere Seelentröster ist weitaus pragmatischer: der Freund und Sekretär Dieter Gräfe (Max Schimmelpfennig) rettet Cranko nach seinen Selbstmordversuchen und organisiert seinen Alltag. Nägelkauend zittert er neben Ausstatter Jürgen Rose beim USA-Gastspiel und sortiert gemeinsam mit dem blutjungen Reid Anderson Crankos Liebhaber – ganz offensichtlich hat Joachim A. Lang für seinen Film mehr private Details von Dieter Gräfe erfahren als sämtliche Biografen Crankos zusammen.
Eigenwillig schönes Denkmal
Als Theaterpraktiker alter Schule reagiert der damalige Generalintendant Walter Erich Schäfer unwirsch auf manche Forderungen seines Ballettdirektors, ermisst aber dessen Genie – die weise Ruhe, mit der Hanns Zischler in dieser Rolle die Werke betrachtet und deutet, gibt dem Choreografen einen wichtigen Rückhalt. Cranko wird geliebt, respektiert, in alle Welt eingeladen, aber glücklich ist er nur selten. So richtig schlecht kommt, auch ohne Auftritt, der damals prägende Ballettkritiker Horst Koegler weg: Sehr bezeichnend zeigt der Film, wie elend der große Choreograf sich unter den harten Worten windet. Und was bringt Cranko danach mit in den Ballettsaal? Einen Hund, den Dalmatiner Artus.
Dass sämtliche Tänzerrollen mit echten Tänzern besetzt sind, die natürlich auch selbst sprechen, das dürfte nicht nur die ganze Berufssparte begeistern, die damals «Black Swan» so heftig kritisierte. Wahrscheinlich musste dieser Film gerade jetzt entstehen, sind doch die Parallelen im Stuttgarter Ballett frappierend – Jason Reilly ähnelt tatsächlich dem maskulinen, zuverlässigen Ray Barra, Crankos erstem Romeo und Onegin, Friedemann Vogel tritt als Heinz Clauss im grauen Zweireiher zum Dienst an, bevor ihn der betrunkene Cranko als «verdammten deutschen Spießer» anschreit. Dass der aktuelle Stuttgarter Weltstar hier ein paar strahlende Auftritte mehr zugestanden bekam als der eher ernste Heinz Clauss sie damals hatte, wird gewiss niemand stören, doch leider kommen Richard Cragun (Martí Paixà), Birgit Keil (Rocio Aleman) und Egon Madsen (Henrik Erikson) fast nur tanzend vor. Neben wichtigen Wegbegleitern wie Anne Woolliams oder Georgette Tsinguirides fehlen, und das ist doch traurig, die britischen Freunde Peter Wright und Kenneth MacMillan komplett. Denn ja: Cranko hatte Freunde.
Obwohl Stuttgart ihn liebt, reibt sich John Cranko an seiner neuen Heimat, klagt vor dem Hintergrund der Apartheid in seiner Heimat Südafrika gar seine deutschen Tänzer als «Rassisten» an, als sie sich öffentlich über die Internationalisierung der Kompanie beklagen. Im Schauspielhaus sieht er «Die Ermittlung» von Peter Weiss über die Auschwitz-Prozesse, schließlich entsteht «Spuren» daraus, eines seiner letzten Werke und das erste deutsche Ballett über die Nazi-Vergangenheit. Hier nimmt sich der Film viel Freiheit und überhöht die Premiere zum Skandal – aber nicht «Spuren» wurde ausgebuht, wie im Film zu sehen, sondern «Green», das letzte Stück des Abends. Die Kritik galt damals nicht unbedingt dem politischen Aspekt, sondern, wesentlich schmerzhafter, wohl doch dem Choreografen Cranko.
Zum Abspann legen die echten Tänzer und ihre Darsteller gemeinsam Rosen am Grab des Choreografen nieder. Die Szene würde doch ein wenig pathetisch an den Schluss von «Schindlers Liste» erinnern – tanzte nicht Elisa Badenes dort oben auf den Hügeln über Stuttgart so allein, so traurig und schön in die Nacht hinaus, als die große Liebe, die John Cranko niemals fand. Was für ein eigenwilliges, schönes Denkmal für ihn!
Ab 3. Oktober im Kino; www.centralfilm.de; www.zeitsprung.de
Tanz Oktober 2024
Rubrik: Ballett im Kino, Seite 52
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