Taufe und Tod

John Neumeiers «Epilog» in Hamburg

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Da steht einer und nimmt Umarmungen entgegen. Jede ist anders. Dem einen legt er den Kopf auf die Schulter, den nächsten zieht er nur sachte heran, der Dritte schlüpft kindergleich in seine Arme. Fünf, zehn, zwanzig Umarmungen? Wie viele es sind, ist gar nicht wichtig. Wichtig ist, dass der Mann gerade noch voller Selbstzweifel seine Zukunft betrachtet, die Arme vor dem eigenen Körper gerundet hat. Unentschlossen, ob er dem Ich alle Zuneigung schenken oder abwarten soll, bis ein Gegenüber auftaucht und mit ihm verschmilzt.

Jetzt also tritt ein Gegenüber nach dem anderen herein, aus der rechten Seitengasse der Hamburgischen Staatsoper auf die offene Bühne. Wo der Blick des Mannes jeden erwartet. Jeden für sich. Seine Augen streifen keinen Moment die Zaungäste da unten im Saal. Sie sind allein auf das gerichtet, was kommt.

Kunst ist Himmel und Hölle auf Erden. Für jeden Künstler, jede Künstlerin. Gelingt ein Werk, jubiliert die Seele. Scheitert eine Idee, versinkt das Ich in Melancholie. John Neumeier, der nach 51 Jahren Ende Juli als Intendant und Chefchoreograf des Hamburg Ballett aus dem Amt geschieden ist, hat seiner Kompanie, dem Publikum und sich selbst sehr viel mehr und häufiger Anlass zur Freude geboten als zu Stirnrunzeln, Enttäuschung, Ärger und Wehmut um eine vertane Chance. Dennoch zieht die allerletzte Choreografie einer Ära, die Hamburg zu einer Weltstadt des Tanzes und ihren Spiritus rector zu einer Weltberühmtheit gemacht hat, vor allem eines: eine nachdenkliche, eine existenzielle Bilanz. Mit heiteren Einschüben. Neumeiers «Epilog» spielt mit der eindeutigen Uneindeutigkeit des Künstlerschicksals, mit der christlichen Prädestination und ihrem irdischen Niederschlag. Der Autor hält die Bedeutung von Beziehungen, Objekten, Szenen in der Schwebe und blättert lose im Buch seines Lebens, das die längste Zeit inniglich mit wechselnden Generationen von Tänzern und Tänzerinnen verbunden war. Im Ballettsaal. Nirgendwo sonst.

Entertainer und Macher
Dort sitzt nun ein junger Mann – rotes Shirt, graue Kniehose –, mitten im Karneval des Alltags: schwatzend trainierendes Jungvolk ringsum, während er ein wenig verloren wirkt, einsam auf dem Stuhl mittendrin. Doch im nächsten Moment zaubert er einen Zylinder hervor, und im übernächsten tanzt er unter dem bestirnten Bühnenfirmament zu Simon & Garfunkels «Song for the Asking» – «Ask me and I will play so sweetly, I‘ll make you smile». Es ist der gerade mal 21-jährige Caspar Sasse, dem John Neumeier dieses Solo anvertraut hat: ein jugendlicher Kreativkopf, bekrönt mit dem glamourösesten Accessoire der Herrengarderobe. Es steht für Entertainer- und Macherqualitäten, für die leichte Muse namens Musical und ein gesamtkunstwerkliches Role Model namens Serge Diaghilew. Den Impresario der Ballets Russes hat Neumeier sich vor Jahrzehnten zum Paten im Geist erkoren. So zieht dieser «Epilog» Motive zusammen und die Fäden kreuz und quer durchs Gewebe seines bewegten Daseins.

Neben die weltliche tritt die spirituelle Dimension. Neumeier spiegelt sie kaleidoskopisch in der Musik, der Kulisse, den feinen Kostümen, die Albert Kriemler ihm entworfen hat. Am Flügel intonieren David Fray und Emmanuel Christien erst Schumann, dann Richard Strauss: «Vier letzte Lieder», gesungen von der unvergleichlichen Sopranistin Asmik Grigorian. Aus dem Bühnenhintergrund leuchtet Piero della Francescas Renaissance-Gemälde «Taufe Christi». Ein symbolisches Glaubensbekenntnis: Jede Choreografie ist ein Bilderbogen, jeder Choreograf ein Maler, heißt es seit Jean-Georges Noverre, und jeder Täufling verschreibt sich seinem Gott mit Haut und Haar. Gerade so hat es John Neumeier mit seiner Kunst gehalten.

Ringen um Liebe und Leben
Sein «Epilog» ist auch eine Hommage an unzählige Tänzer und Tänzerinnen, die dem Choreografen ihre Körperinstrumente zur Verfügung stellten. Während er vice versa ihre Persönlichkeiten zum Leuchten zu bringen wusste und es nun ein letztes Mal tut – mit Madoka Sugai, Ida Praetorius, Alexandr Trusch, Christopher Evans, Aleix Martí-nez, Silvia Azzoni, Anna Laudere … unmöglich, sie alle zu nennen.

Bleibt der Pas de deux, der die Leidenschaften beschwört und sublimiert, die John Neumeiers Menschenlandschaften beseelen: Jacopo Bellussi und Alina Cojocaru ringen um die Liebe, das Leben. Der Tod steht schon vor der Tür. Gleich wird er mit Richard Strauss’ «Im Abendrot» hereinwehen. Es gibt nichts, rein gar nichts mehr zu verheimlichen. Zu beschönigen, zu verstecken. Cojocaru tanzt im Spitzenschuh, als wäre sie barfuß. Und legt ihre Seele frei, als wäre sie nackt.

Zurück an den Anfang. Da steht einer und nimmt Umarmungen entgegen. Jede ist anders. Dem einen legt er den Kopf auf die Schulter, den nächsten zieht er nur sachte heran, der Dritte schlüpft kindergleich in seine Arme. Es sind die Gefährten vieler Jahre, die Ideenund Taktgeber, die Aids-Toten, die Tänzer, die Freunde, Feinde, Wegbegleiter. John Neumeier hat sie losgelassen. Auch diese Kunst beherrscht er. Das ist ein Trost. Er wird ihn brauchen. Und wir auch.


Tanz August/September 2024
Rubrik: Produktionen, Seite 8
von Dorion Weickmann

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